Der rollende Galgen
Sie verhandelten zunächst mit ihm, boten ihm Feuerwasser und bunte Perlen an. Er durchschaute jedoch ihr Spiel und lehnte ab. Da griffen sie zu anderen Mitteln. Sie schlugen seine Freunde und Familienangehörigen zusammen, vergewaltigten die Frauen und jungen Mädchen, sperrten die Männer in Verliese ein, wo sie Krankheiten bekamen, die sie zuvor nicht kannten. Sie starben wie die Fliegen. Dann fragten sie Aconagua noch einmal. Wieder lehnte er ab. Und so griffen sie zum letzten Mittel, sie hielten über ihn Gericht und verurteilten ihn und seine drei Getreuen zum Tode. Das Urteil wurde vollstreckt.«
Joseph schwieg. Ergriff zu einem in der Nähe stehenden Glas und trank einen Schluck Wasser.
»Wie kamen die Männer ums Leben?« frage ich.
Joseph strich mit den Fingerkuppen beider Hände über den Rand seines Topfhuts. »Sie starben nicht in Ehre, denn die Weißen gaben ihnen einen schrecklichen Tod. Er und seine drei Getreuen wurden durch den Strick hingerichtet.« Er nickte. »So ist es gewesen, so waren die Weißen, die Verfluchten.«
Wir schwiegen. Ein jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Wir verstanden jetzt einiges von dem, was in der Stadt vor sich gegangen war. Aber noch längst nicht alles.
»Ich kann es noch immer nicht begreifen.« Abe schüttelte den Kopf.
»Hätte ich die Fotos nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte es nicht geglaubt.«
Joseph horchte auf. »Fotos?«
»Ja, es gab einen Zeugen.«
Der alte Mann wurde unruhig. »Was hat er gesehen? Sagt es mir, es ist wichtig.«
»Ich habe sie leider nicht bei mir«, erklärte der G-man. »Ich kann dir erklären, was darauf zu sehen ist.«
Joseph beugte sich weiter vor, um besser hören zu können. Er wollte kein Wort verpassen. Abc zeigte Vertrauen zu ihm und weihte ihn ein.
»Ja«, sagte Joseph, »das sind sie. Das genau sind sie. So sind sie auch in den alten Überlieferungen beschrieben worden.« Er spreizte erst drei Finger ab, dann kam noch einer hinzu. »Die drei Getreuen und Aconagua. Er wird sich schlimm rächen.«
»Und jetzt ist der Galgen wieder da«, sprach Abe in die Worte des Alten hinein.
Joseph nickte nur.
»Was ist der genaue Grund?«
»Der Fluch«, füsterte Joseph, »der alte Fluch. Sie hätten ihn nie hängen dürfen. Seine Seele irrt durch die Leere. Der Große Geist nimmt sie nicht auf. Wißt ihr denn nicht, welch eine Schande es für ein Mitglied unseres Volkes ist, gehängt zu werden?« Er ereiferte sich bei diesen Worten. Heller Speichel glänzte vor seinem Mund.
»Davon habe ich gehört«, gab ich zu.
»Ein Indianer, der aufgehängt wird, dessen Seele wird stets umherirren. Bei den meisten, die gehängt worden sind, haben die Weißen keine Rache zu spüren bekommen. Bei Aconagua ist das anders gewesen. Er war ein Wissender, einer, der mit der anderen Welt Kontakt hatte. Daran haben seine Peiniger nicht gedacht.«
Ich faßte zusammen. »Okay, das ist alles schön und gut, aber wir können es nicht hinnehmen, daß er und seine Getreuen Menschen ermorden. Wir müssen sie stoppen.«
»Ich denke auch so, denn ich bin ein Mann des Friedens«, antwortete der Alte prompt. »Deshalb habe ich mich mit euch eingelassen, obwohl mich dies viel kosten kann. Ich weiß nicht, ob nach eurem Besuch mein Ansehen so sein wird wie zuvor.«
»Wo hat man sie denn begraben?« fragte Suko. Er wollte den Mann auch vom Thema ablenken.
»Genau hier!« Joseph zeigte mit dem Finger zu Boden. »Unter diesem Haus befindet sich der alte Friedhof. Diejenigen, die hier einst einzogen, wußten es. Die Mauern dieses Hauses sind noch vom Geist der Umherirrenden durchweht.«
Dies zu erfahren, war natürlich doppelt interessant für uns. Suko und ich verfolgten den gleichen Gedanken. »Können wirden Ort sehen, wo sich die Grabstätte befindet?« fragte ich.
»Sie meinen besichtigen?«
»Oder das.«
Joseph, der uns einmal in der ersten, dann wieder in der dritten Person ansprach, nickte. »Ja, der Keller hier ist der eigentliche Mittelpunkt. Verstehen Sie?«
»Natürlich.«
»Aber er ist auch gefährlich, denn unter ihm befindet sich eine heilige Stätte. Wir dürfen sie sehen«, flüsterte er uns zu, »Sie aber nicht, denn Sie sind weiß.« Er hob einen Finger. »Und diese Farbe ist nicht nur bei den Schwarzen verhaßt. Auch meine Brüder und Schwestern mögen sie nicht. Die Weißen haben unserem Volk zu viel angetan.«
»Ich bin kein Weißer«, sagte Suko. Er betonte das zweitletzte Wort besonders.
Ich wußte, was er meinte
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