Der rollende Galgen
faszinierend; denn die Helligkeit vermischte sich mit dem Schein der Kerze.
Joseph nickte. Er war zufrieden. Dann senkte er den Kopf und hob das kleine Buch gleichzeitig an. Noch einmal atmete Joseph tief durch, bevor er redete.
Es waren Worte, Silben und Laute, die wir beide nicht verstanden. Bei dieser Sprache mußte es sich um einen indianischen, sehr alten Dialekt handeln.
Suko und ich waren etwas zurückgetreten. Wir hielten uns im Schatten der Wand auf, konnten allerdings sehr gut erkennen, was in der Mitte des Zimmers ablief.
Noch tat sich nichts. Nur Joseph redete. Bleiern, monoton klangen seine Worte. Er bewegte sich dabei nicht. Die besonderen Formeln glitten auch in unterschiedlicher Lautstärke über seine Lippen, und sie zeigten einen ersten Erfolg.
Bisher hatte der Kreis nur geglüht. Er glühte auch noch weiter, nur sonderte er plötzlich Rauch ab.
Zunächst zitterten dünne Fäden über dem Kreis. Sie kamen mir etwas verloren vor, als gehörten sie nicht dorthin. Nur gab es keinen Wind, der sie hätte auseinanderfächern können. Der Rauch bekam immer mehr Nachschub und wurde dichter. Er stieg hoch und bildete einen Zylinder aus Rauch, hinter dem die Gestalt des alten Indianers verschwamm. Wir sahen ihn nur mehr schattenhaft und hörten seine murmelnde Stimme, die immer weitere Formeln sprach.
Suko und ich hielten den Atem an. Spannung hatte uns erfaßt. Joseph wollte einen Weg zwischen zwei Welten schaffen. Das alte Totenbuch seiner Ahnen konnte ihm dabei eine Hilfe sein. Es stellte sich nur die Frage, ob er nicht auch die Dimensionen des Bösen öffnete. Der Rauch blieb.
Bis zur Decke war er gestiegen. Für uns saß Joseph wie auf einer Insel. Wenn ihm jetzt etwas passierte, konnten wir nicht einmal angreifen. Hatte er schon Kontakt?
Ich sah einen Bewegung in der Rauchwand. Dort zeichnete sich etwas Dreidimensionales ab.
Ein Frauengesicht! Wir kannten es gut, hatten die Person auch als Lebende deutlich vor Augen. Erschien uns Nabila jetzt als Tote oder als Geist?
Ich wollte es kaum glauben, auch Suko faßte es nicht. Das Gesicht drehte sich.
Er schaute uns aus dem Kreis heraus an.
Da sahen wir die schreckliche Wunde am Hals. Wie eine Tasche klaffte sie auf. Blut strömte hervor, die feinen Züge des Gesichts verzerrten sich vor Schmerz und Grauen. Der stumme Schrei stand wie festgemeißelt auf ihren Lippen, und selbst aus den Augen quoll Blut. Das Gesicht zerfiel. Rauch drang hinein und löste es auf. Wir hatten nicht mehr auf die Stimme des Indianers geachtet. Jetzt hörten wir sie wieder.
Sie war zu einem Flüstern geworden. Das Sprechen und Reden mußte ihm einfach Schwierigkeiten bereiten.
Der Rauch blieb, nur zeigte er kein Bild mehr, obwohl wir damit rechneten, Aconagua zu sehen.
Dafür geschah etwas anderes. In die Gestalt des Indianers kam Bewegung. Sie schwand so lange von einer Seite zur anderen, bis sie das Übergewicht bekam und nach links kippte.
Direkt auf uns zu, was nicht das Schlimmste war, denn sie fiel auch auf das glühende Pulver. Mit dem Knie schlug er noch die Kerze um, die liegend weiterbrannte und deren Flamme neue Nahrung suchte. Wir handelten schnell.
Während ich die Flamme zertrat, zog Suko Joseph aus dem Kreis weg. Er zerstörte ihn damit.
Ich verließ ihn ebenfalls. In der kurzen Zeitspanne hatte ich sehr genau etwas von der Magie und Kraft gespürt, die innerhalb des Kreises steckte. Ich war mir vorgekommen wie jemand, der schwebte und danach trachtete, den Kontakt zum Boden zu bekommen. Den hatte ich Sekunden später.
Es war Suko gelungen, den alten Indianer bis rechts neben der Tür an die Wand zu ziehen. Dort hockte er, hielt das kleine Buch umklammert und atmete schwer.
Der Kreis glühte weiter, doch der Rauch war nicht mehr zu sehen. Ich knipste die Lampe an.
Joseph schaute hoch. Sein Gesicht glänzte naß. Er hatte viel Schweiß und Energie verloren. Wir ließen ihn zur Ruhe kommen, bevor wir die Fragen stellten.
»Hast du sehen können?«
Er schielte zu mir hoch. Ich bückte mich, blieb in der Hocke.
»Gesehen?« wiederholte er, »meine Güte, was heißt schon gesehen…?«
»Nabilas Gesicht.«
»Ja, das ist wahr…«
»Lebt sie?« Ich stellte die Frage mit leicht zitternder Stimme.
»Ich kann es dir nicht sagen, aber das Bild war schrecklich. Es sah so aus, als hätte Aconagua sie töten wollen. Vielleicht hat er sie auch umgebracht. Mir blieb zu wenig Zeit, um tiefer hineinschauen zu können, versteht ihr?«
»Natürlich, Joseph.
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