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Der Rosenmord

Der Rosenmord

Titel: Der Rosenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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weiter gefragt. Heute nachmittag waren sie noch einmal hier, aber sie haben nicht um die Schlüssel gebeten. Sie haben das Boot gefunden … Nein, wahrscheinlich habt Ihr sie nicht gehört. Hättet Ihr denn geschrien, wenn Ihr sie gehört hättet?«
    Es war eine überflüssige Frage, auf die sie keine Antwort gab. Aber sie dachte darüber nach. Hätte sie wirklich um Hilfe gerufen, um sich aus diesem elenden Gefängnis holen zu lassen, unvorbereitet, staubig und verschmutzt, kompromittiert und bejammernswert? Wäre es nicht besser gewesen zu schweigen und aus eigener Kraft aus dieser schlimmen Lage herauszukommen? Denn nach der ersten Verwirrung, Empörung und Beunruhigung wurde ihr klar, daß sie keine Angst vor Vivian hatte. Es bestand keine Gefahr, daß sie ihm nachgeben könnte, und jetzt sehnte sie sich wie er nach einer Lösung, die es ermöglichte, alles unter den Teppich zu kehren.
    Sie wollte ihre Würde und Integrität bewahren und von niemand abhängig sein. Am Ende mußte er sie doch freigeben. Sie war die Stärkere.
    Er faßte eine Falte ihres Rocks. Das Gesicht, das er zu ihr wandte, deutlich zu sehen in der gelben Flamme der Lampe, war eigenartig verletzlich und jung wie das eines ertappten Knaben, der für eine schreckliche Missetat um Entschuldigung bittet und nicht bereit ist, sich der Strafe zu stellen. Die Stirn, die er gegen die Wand gelehnt hatte, war vom Staub verschmiert, und als er sich mit dem Handrücken die Tränen oder den Schweiß oder beides abwischte, zog er sich einen langen Schmutzstreifen über die Wange. In seinem hellen, zerzausten Haar hingen ein paar Spinnweben. Die großen braunen Augen, vor Angst stark geweitet, funkelten golden im Licht der Lampe und blickten Judith flehend an.
    »Judith, Judith, so seid doch nachsichtig mit mir! Ich hätte Euch Schlimmeres antun können … ich hätte Euch mit Gewalt nehmen können -«
    Sie schüttelte verächtlich den Kopf. »Nein, hättet Ihr nicht.
    Dazu habt Ihr nicht die Nerven. Ihr seid viel zu vorsichtig – oder vielleicht zu anständig. Vielleicht auch beides. Es hätte Euch auch nichts genützt, wenn Ihr es getan hättet«, fügte sie entschlossen hinzu und wandte sich ab, um das verzweifelte, trostlose junge Gesicht nicht mehr sehen zu müssen, das sie so sehr an Bruder Eluric erinnerte, der schweigend, ohne Hoffnung und ohne Flehen, gelitten hatte. »Und jetzt sind wir beide hier, Ihr und ich, und Ihr wißt wie ich, daß dieses Spiel ein Ende haben muß. Ihr habt keine Wahl, als mich gehen zu lassen.«
    »Und dann werdet Ihr mich vernichten«, flüsterte er und schlug die Hände vors Gesicht.
    »Ich wünsche Euch nichts Böses«, erwiderte sie müde.
    »Aber Ihr habt uns in diese Lage gebracht, nicht ich.«
    »Ich weiß es doch, ich gebe es zu. Und Gott weiß, daß ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen! O Judith, helft mir doch, helft mir.«
    Und damit hatte er endlich eingestanden, daß er verloren hatte. Er war ihr Gefangener und nicht sie seine Gefangene, von ihr hing es ab, ob er aus der Falle gerettet wurde, die er sich selbst gestellt hatte. Er legte den Kopf in ihren Schoß und schüttelte sich vor Kälte. Und sie war so müde und verwirrt, daß sie resigniert eine Hand hob, um sie auf seinen Kopf zu legen und ihn zu beruhigen. Doch plötzlich ertönte hinter ihr ein reißendes, kratzendes Geräusch, das beide auffahren und erschrocken innehalten ließ. Kein lautes Geräusch war es, nur ein Schleifen, als wäre ein nicht allzu schweres Gewicht hinabgeglitten und mit einem dumpfen Aufprall im Gras gelandet. Vivian sprang zitternd auf.
    »Um Himmels willen, was war das?«
    Sie hielten den Atem an und lauschten. Es blieb einen Moment still, dann hörten sie aus der Richtung der Walkmühle das laute, wilde Bellen der angeketteten Bulldogge. Nach wenigen Augenblicken bekam das Gebell einen tieferen, zielstrebigeren Unterton, als die Jagd begann, nachdem der Hund von der Kette gelassen worden war.
    Bertred hatte sich allzu leichtfertig dem alten, abgenutzten, vernachlässigten Holz anvertraut, das lange Zeit Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Der Sims, auf dem er hockte, war mit langen Nägeln befestigt, doch an einer Seite waren die Nägel nach vielen Regenfällen stark verrostet und das Holz um sie herum verfault. Als er sein Gewicht verlagerte, um die verkrampften Beine zu entspannen und das Ohr dichter an den Spalt zu legen, splitterte und brach das Holz, vor ihm kippte der Sims nach unten weg und kratzte

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