Der Rosenmord
angetan habe? Das habe ich nicht verdient!«
Es war etwas Neues, dachte sie belustigt, daß Vivian Hynde glaubte, er habe etwas nicht verdient oder es gebe etwas, auf das er kein Anrecht habe. Vielleicht hatte diese Angst, die er sich selbst eingebrockt hatte, sogar eine heilsame Wirkung auf sein ganzes Leben. Er war kein Unhold, nur ein schwacher und zügelloser Junge. Trotzdem ließ sie seine Frage unbeantwortet.
Tatsächlich gab es etwas, das sie ihm kaum verzeihen konnte, nämlich daß er sie der groben Behandlung Gunnars ausgesetzt hatte, der es sichtlich genossen hatte, sie eng zu umfassen und sie in seiner Gewalt zu halten. Vor Vivian hatte sie keine Angst; vor Gunnar schon, und wenn sie Gunnar jemals ohne Vivian begegnete, dann hatte sie sicher auch allen Grund dazu.
»Ich tue dies ebenso für mich selbst wie für Euch«, entgegnete sie schließlich. »Ich habe Euch mein Wort gegeben, und ich werde es halten. Also morgen abend. Einverstanden.
Es ist zu spät, um heute noch etwas zu unternehmen.«
Nun meldeten sich wieder seine Zweifel und seine Furcht. Er erinnerte sich an den Lärm draußen, an das Gebell des Wachhundes. »Aber was, wenn jemand mißtrauisch geworden ist? Was, wenn sie morgen wiederkommen und die Schlüssel verlangen? Judith, kommt mit mir in unser Haus. Es ist nicht weit von der Pforte entfernt, niemand wird uns jetzt sehen.
Meine Mutter wird Euch verstecken, sie wird uns helfen und Euch dankbar sein, daß Ihr mich verschont. Mein Vater ist draußen in den Bergen, er wird es nicht erfahren. Dort könnt Ihr ruhen und in einem Bett schlafen und Wasser zum Waschen
und alles bekommen, was Ihr zu Eurer Bequemlichkeit braucht
…«
»Eure Mutter weiß, was Ihr getan habt?« fragte sie entsetzt.
»Nein, sie weiß nichts! Aber um meinetwillen wird sie uns jetzt helfen.« Er war schon an der schmalen Tür, die hinter den gebündelten Vliesen versteckt lag, drehte den Schlüssel herum, zog sie mit sich, fiebrig in seiner Eile, sie aus dem Gefängnis heraus und wohlbehalten in sein Heim zu bringen. »Ich werde Gunnar schicken, damit er hier alle Spuren verwischt. Wenn sie wirklich kommen, dann sollen sie diesen Raum leer und verlassen vorfinden.«
Sie blies den Docht der Lampe aus und folgte ihm. Sie stieg rückwärts die Leiter vom Speicher hinunter und trat durch die untere Tür in die Nacht hinaus. Gerade ging der Mond auf und tauchte den Hang in blaßgrünes Licht. Die Luft war süß und kühl auf ihrem Gesicht nach dem modrigen, staubigen Geruch ihres Gefängnisses und dem Qualm der Lampe in dem winzigen Raum. Es war kein weiter Weg bis zu den Schatten der Burgtürme und zur Pforte in der Mauer.
Ein Schatten umging die im Mondlicht liegende freie Fläche und näherte sich behende und still dem Flußufer. Der Überhang, wo Bertred versucht hatte, dem Wachhund mit einem Sprung zu entkommen, lag noch in tiefem Schatten.
Bertred war noch immer bewußtlos, doch gerade begann er sich stöhnend zu regen. Er atmete schwer, denn allmählich wurden ihm die Schmerzen bewußt. Er bemerkte nicht den tieferen Schatten, der über seinen Körper fiel, als das Mondlicht den Fluß erreichte. Eine Hand wurde ausgestreckt und faßte sein Haar, drehte sein Gesicht herum, damit es betrachtet werden konnte. Bertred lebte und atmete, er würde wohl noch einige Stunden brauchen, um sich zu erholen, aber dann wäre er fähig, sich zu erklären und alles zu berichten, was er wußte.
Der über ihn gebeugte Schatten richtete sich auf, verharrte einen Augenblick reglos. Dann stieß er einen bestiefelten Fuß in Bertreds Seite, schob ihn über die Steine, auf denen er lag, und drückte ihn ins tiefe Wasser hinaus, wo der Strom sehr schnell war und den Körper zur Mitte des Flusses und zum anderen Ufer tragen würde.
Der zwanzigste Juni begann mit funkelnden Regenschauern, die am Vormittag nachließen und der Sonne wichen. In den Obstgärten der Gaye gab es eine Menge Arbeit, doch wegen des morgendlichen Regens mußte man bis zur Mittagshitze warten, ehe man sie in Angriff nehmen konnte. Die Süßkirschen waren reif und konnten gepflückt werden, doch dazu mußten sie trocken sein. Auch Erdbeeren gab es schon, aber auch diese mußten vor dem Pflücken von der Sonne getrocknet werden. In den offenen im Sonnenlicht liegenden Gemüsebeeten trocknete der Boden schneller. Dort säten einige Brüder Salat für die zweite Ernte ein und hackten und jäteten. Erst nach dem Mittagessen begannen die Brüder im hinteren
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