Der Rosenmord
seinem Weidenkorb ging.
Er wollte nach Möglichkeit keinen Lärm machen, doch vorsichtshalber hatte er sich einen langen Meißel und einen Hammer in die Manteltasche gesteckt. Den Riegel über der Luke brauchte er nur zurückzuziehen. Vermutlich war die Luke aber zusätzlich vernagelt. Genau durch diese Luke war vor einem Jahr eine Ladung Vliese gestohlen worden, und da das kleine Kontor nicht mehr gebraucht wurde, hatte der alte Hynde das Fenster aus Angst vor weiteren Diebstählen verbarrikadieren lassen. Auch das konnte der Sheriff nicht wissen.
Den leichten Wind im Gesicht ging Bertred leise über die Wiese hinter dem Lagerhaus. Allmählich schälten sich die Umrisse der Gebäude, Schwarz vor tiefem Grau, aus der Dunkelheit. Der Schuppen lag zwischen ihm und Godfrey Füllers Fabrik, ein Stück zu seiner Linken schimmerte der Fluß.
Und in doppelter Mannshöhe über ihm war die quadratische, verriegelte Luke, die er mit seinen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnten Augen gerade noch erkennen konnte.
Der Aufstieg war kein Problem, das hatte er sich vorher überlegt. Das Gebäude war alt, und da die Rückseite dem Fluß zugewandt war, waren die Querstreben im Laufe der Jahre häufig feucht geworden und verfault. Der alte Hynde, immer geizig mit seinem Geld, hatte die schwachen Stellen mit Balken verstärkt, die Bertred nun beim Klettern einen guten Halt boten, bis er die dicke Schwelle unter der Luke packen konnte. Der Vorsprung war gerade breit genug, um sicher stehen zu können und ein Ohr an die Luke zu legen.
Er zog sich vorsichtig hinauf, legte eine Hand auf den Balken, der die Luke verschloß, drückte sich an die Holzwand und hielt den Atem an. Er hatte etwas Eigenartiges und Unerwartetes bemerkt. Die Luke paßte recht genau in die Öffnung, aber es gab doch einige Spalten. Knapp unter der Mitte, wo zwei Bretter aneinanderstießen, war eine dünne, helle Linie zu sehen, ein hauchdünner Faden aus blassem Gold, viel zu schmal, um hineinzublicken.
Vielleicht war es doch nicht so seltsam. Vielleicht hatten die Entführer wenigstens den Anstand besessen, Judith eine Kerze oder eine Lampe ins Gefängnis zu geben. Es konnte sich auszahlen, ihr in Kleinigkeiten soweit wie möglich entgegenzukommen, während man versuchte, ihren Widerstand zu brechen. Gewalt würde nur angewendet werden, wenn alles andere nichts nützte. Zwei Tage ohne Ergebnis, das sah schon sehr nach einem Fehlschlag aus.
Der Meißel in seinem Mantel drückte schmerzhaft gegen seine Rippen. Vorsichtig zog er die Werkzeuge heraus, um sie auf dem Sims bereitzulegen. Dann schob er sich näher an den Lichtfaden heran und legte das Ohr an den Riß.
Der Schreck warf ihn fast von seinem Hochsitz. Denn plötzlich erhob sich eine Stimme, klar und deutlich und recht nahe hinter der Luke: »Nein, Ihr könnt mich nicht umstimmen.
Ihr hättet es gleich wissen sollen. Ich bin Euch zum Problem geworden. Ihr habt mich hergeschleppt, nun seht zu, was Ihr mit mir anfangt.«
Die hoffnungslose Stimme, die antwortete, war weiter entfernt, vielleicht auf der anderen Seite des Raumes. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber die Stimme war die eines verzweifelt klagenden, abgewiesenen Menschen. Der Sprecher war ein Mann, doch konnte Bertred nicht erkennen, ob er alt oder jung war, Diener oder Herr.
Damit war Bertreds Plan ins Wasser gefallen. Er mußte warten, und wenn er zu lange wartete, würde der Mond aufgehen, und die Gefahr würde sich vergrößern. Der Ort war richtig, sein Verdacht hatte sich bestätigt, die Frau war wirklich hier. Nur die Zeit war schlecht gewählt, denn ihr Häscher war bei ihr.
8. Kapitel
»Ihr habt mich hergebracht«, erklärte sie, »und jetzt seht zu, was Ihr mit mir anfangt.«
In dem engen, leeren Raum, der einst Hyndes Kontor gewesen war, konnten sie einander im Licht der kleinen Lampe kaum sehen. Er war vor ihr zurückgewichen und stand in der hinteren Ecke, den Rücken zu ihr gewandt, den Kopf in der Armbeuge versteckt und die Stirn gegen die Wand gelehnt, während er mit der anderen Faust ohnmächtig und schmerzhaft gegen das Holz schlug. Seine Stimme klang gedämpft, die hilflose Wut ließ ihn jämmerlich klagen: »Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Es gibt keinen Ausweg!«
»Ihr könntet die Tür aufsperren«, erwiderte sie einfach, »und mich gehen lassen. Nichts leichter als das.«
»Für Euch!« protestierte er ungestüm und drehte sich wieder herum, um sie mit all dem Gift anzustarren, zu dem er fähig war.
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