Der rostende Ruhm
Infektion der serösen Haut mit Kolibazillen in solch umfassender Form den Patienten bereits an den Rand des Todes gebracht hatten, war die einzige Chance der Rettung eine gründliche, aber ungeheuer vorsichtige Reinigung der Bauchhöhle von dem jauchigen Exsudat.
Clemens Moosbaur atmete nur noch schwach. Noch während des Absaugens schlossen zwei andere Ärzte eine Blutkonserve an und gaben eine Bluttransfusion. Im Hintergrund machten zwei Schwestern eine Kochsalz-Traubenzucker-Lösung zur intravenösen Infusion fertig.
»Schneller!« sagte Dr. Czernik gepreßt. »Wir müssen schneller fertig werden. Ich muß das Loch im Darm finden!«
Dr. Werth nickte. Aber es war nur ein Nicken des Verstehens – schneller ging es nicht mehr.
Langsam wurde die Übersicht in der Bauchhöhle freier. Noch schwappte in der Tiefe das Exsudat. Dr. Werth führte den Sauger vorsichtig auf den Höhlengrund. Im gleichen Augenblick untersuchte Czernik die Därme und war der Verzweiflung nahe. Er wußte wie jeder hier am OP-Tisch, daß es sich um einen winzigen Schnitt handeln mußte, um ein Antippen des Skalpells oder der Scherenspitze an dem Darm. Aber dieses nicht sichtbare Loch genügte, den Darminhalt in die Bauchhöhle sickern zu lassen und ein Leben auszulöschen.
Die Bauchhöhle war frei. Der Sauger verstummte. Czernik suchte und suchte. Schweiß tropfte über seine Nase in das Mundtuch. Dr. Thoma hielt einen starken Handscheinwerfer in die große Operationswunde und leuchtete die Darmwände ab.
»Nichts!« stöhnte Czernik. »Verdammt! Nichts! Aber irgendwo muß das Loch sein!« Er blickte auf und hinüber zum Kopf Moosbaurs. Der Anästhesist hob stumm die Schultern, Czernik kannte dieses Zeichen … Macht schnell, hieß es. Auch Transfusionen und Kreislaufmittel haben eine bestimmte Grenze, hinter der das große Schweigen beginnt.
»Man hätte doch den Chef rufen sollen«, sagte Dr. Thoma leise. Czernik fuhr auf.
»Was soll Bergh noch hier? Er hat uns diese Schweinerei beschert!«
»Aber wir alle waren dabei!« sagte Dr. Werth hart.
Dr. Czernik schwieg verbissen. Natürlich waren wir alle dabei, dachte er. Ich habe sogar als Erster Assistent jeden Handgriff gesehen und für gut befunden! Ich hätte es als erster sehen müssen! Bergh hat auch mich blamiert!
»So etwas kann vorkommen!« sagte er laut. »Das ist einem Sauerbruch vielleicht auch passiert. Nur spricht man nicht darüber. Man rettet das Leben, man bügelt es aus – und damit Schluß! Suchen wir weiter.«
Sie standen vier Minuten lang untätig um die offene Bauchhöhle und beobachteten die Därme. Dort, wo sich neues Exsudat bilden würde, mußte auch das Loch sein.
Sie warteten wie vier weiße Riesenkatzen, sprungbereit.
Die Minuten wurden unendlich. Sie vergingen kaum. Als Czernik einmal kurz aufblickte und auf die Uhr an der OP-Kachelwand sah, atmete er tief auf, als brauche er Luft, um diese Spannung durchzuhalten.
»Erst zwei Minuten«, sagte er leise.
Es war ihm, als ticke eine riesige Uhr in seinem Gehirn. Und jedes Sekundenticken war wie ein Schlag auf seine Nerven, massiv, bis in die Zehenspitzen gehend, den ganzen Körper durchschüttelnd.
»Da …«, sagte Dr. Thoma plötzlich in die Lautlosigkeit hinein. »Da – sehen Sie doch …«
Dr. Czerniks Hand schoß zur Seite. Schwester Cäcilia hatte bereits die große weiße Darmklemme, die Doyensche Klemme, vom Tisch genommen und drückte sie Czernik in die Finger. Auch die feinen, drehrunden und gekrümmten Darmnadeln mit der feinen Seide legte sie zurecht. Sie kannte jeden Griff im voraus, sie ahnte, was gebraucht wurde. Schon Bergh hatte sie deswegen bewundert und sogar gelobt. Für Czernik war es einfach ein Glücksumstand, daß er beim neuerlichen Ausstrecken der Hand die erste Darmnadel zwischen den Fingern fühlte.
Das winzige Loch war gefunden. Ein Einstich von der Größe einer Stecknadelspitze. Aus ihm sickerte langsam die Darmflüssigkeit. Czernik klemmte den Darm ab und schob das verletzte Stück zur besseren Nahtübersicht empor.
»Mit der Scherenspitze gestreift«, sagte er leise. Er sah auf Dr. Werth und Dr. Thoma und dann auf die anderen Ärzte. »Es hätte jedem von uns passieren können. Sprechen wir uns nicht frei davon. Brechen wir keinen Stab über Bergh. Seine Hypernephrom-Operation war einmalig. Das wollen wir nicht vergessen. Das hier …«, er nahm die gebogene Darmnadel und beugte sich wieder über den Operationstisch, »… können und werden wir vergessen!«
Nach
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