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Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Titel: Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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alte Hut war mir entfallen. Ich stolperte und fiel. Ein Russe hob mich auf. Seitlich war eine Wölbung, weiß Gott, welcher schon halb zerstörte Keller. Da drängte man herein. Es war heiß. Die Russen liefen in irgendeiner andern Richtung weiter, ich mit ihnen. Nun stand man in einem offenen Gang, geduckt, zusammengedrängt. Vor mir lag ein unkenntlicher großer freier Platz, mitten in ihm ein ungeheurer Trichter. Krachen, Taghelle, Einschläge. Ich dachtenichts, ich hatte nicht einmal Angst, es war bloß eine ungeheure Spannung in mir, ich glaube, ich erwartete das Ende. Nach einem Augenblick kletterte ich über irgendein Gewölbe oder eine Brüstung oder Stufen ins Freie, stürzte mich in den Trichter, lag ein Weilchen platt an den Boden gedrückt, kletterte dann den Trichter aufwärts, über einen Rand in ein Telefonhäuschen. Jemand rief: »Hierher, Herr Klemperer!« In dem demolierten Aborthäuschen nebenan stand Eisenmann sen., Schorschi auf dem Arm. »Ich weiß nicht, wo meine Frau ist.« – »Ich weiß nicht, wo meine Frau und die andern Kinder sind.« – »Es wird zu heiß, die Holzverschalung brennt... drüben, die Halle der Reichsbank!« Wir rannten in eine flammenumgebene, aber fest aussehende Halle.
     
    Dresden Der Oberzahlmeister Gerhard Erich Bähr 1 894–1975
    Gegen ein Uhr kam der zweite Angriff, und das war erst die Hauptsache! Wir hockten wieder im Kellergang, wohl an die 40 Personen, Hausbewohner und Fremde. Schwere Einschläge rings um uns. Plötzlich ein ganz ungeheurer Schlag, so daß alles Licht verlöschte. Die Wände wankten, Quader stürzten auf uns, die Luft war vom Gesteinsstaub erfüllt zum Ersticken. Die Gläser der Schutzbrille waren sofort zerbrochen und der feine Sand drang in die Augen. Dazu Stockfinsternis und Schreie der Menschen um uns. Wir lagen auf der Erde und erwarteten das Ende. Meine Beine waren verschüttet. Darauf lag ein Sandsteinquader, ein Koffer und ein dicker grauer Sack, der sich naß anfühlte und den ich wegzuschieben versuchte, um herauszukommen. Plötzlich merkte ich, daß es kein Sack war, sondern ein Mann ohne Kopf! Und dicht neben mir kauerten Hildegard und Ingelore. Mir verschlugs den Atem. Keinesfalls durften sie merken, was los war, damit sie nicht noch die Nerven verloren. Immer wieder versuchte ich, meine Beine herauszuziehen. Daß Gottseidank nichts gebrochen war, merkte ich ja. Aber ich kam nicht heraus und meine Verzweiflung stieg mehr und mehr. Mit einer geradezu übermenschlichen Anstrengung gelang es mir schließlich doch noch. Wir stellten fest, daß beide Mauerdurchbrüche hoffnungslos verschüttet waren und damit auch alles Gerät verloren war. Der Kellereingang war auch eingestürzt. Wir waren also völlig eingeschlossen. Durch den Mauerdurchbruch nach dem Hause Nicolaistraße 1 waren vom Einsturz des Nachbarhauses die losen Ziegelsteine in breiter Flut gerutscht und von dort kamen Hilfeschreie. Es war nicht heranzukommen, weil unser Kellergang verstopft war und halb verschüttet.
    An der Unfallstelle konnte nur einer stehen und es war schon der alte Nasdal aus dem vierten Stock dort und räumte Ziegel weg. Mit einer Kerze, die ständig wieder ausging, leuchtete ich ihm und half so gut es ging. In dem Schuttkegel steckte zunächst unser Nachbar, der alte Herr Seltmann. Ihn hatte es erschlagen und er lag auf dem Rücken mit ausgebreiteten Armen und steckte bis zum Leib im Schutt. Unter ihm schrie eine unbekannte Frau grauenhaft um Hilfe. Sie steckte ganz im Schutt und der Tote lag auf ihr, nur ihr Kopf war frei. Noch tiefer und nicht mehr zu sehen wimmerte noch eine Frau. Wir arbeiteten wie rasend, aberwenn Nasdal einen Ziegel wegnahm, rutschten 20–30 neue nach. Es wurde immer schlimmer und die Hilferufe wurden schwächer.
    Plötzlich rief alles: »Die Kohlen brennen!« und in stinkenden Schwaden kam es heran. Es war kein Zweifel mehr: das war das Ende. Ich sah mich um nach Hildegard und Ingelore und sah sie nicht. Es war überhaupt alles leer da vorn. Im nächsten Augenblick entdeckte ich eine Bewegung nach dem Eckkeller. Dort hatte eine Zeitzünderbombe wie durch ein Wunder auf einmal doch noch eine kleine runde Kellerluke aufgerissen. Die war unvergittert, weil der Kellereigentümer eigenmächtig vor wenigen Tagen das Gitter entfernt hatte, was noch Krach mit dem Hauswirt gegeben hatte.
    Nun war dieses Wunder unsere Rettung!
    Wer kann begreifen, daß man einen um Hilfe schreienden Menschen in Todesangst im Stich läßt? Es kann kaum

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