Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
den Hügel erklettert hatte und vor dem Festungstor stand. Die Diener beachteten ihn nicht, und er taumelte ein ganzes Stück, bis jemand auf der Mauer die Blutspur bemerkte, die er hinter sich herzog. Zwei Bogenschützen erschienen, stützten ihn und führten ihn durch das Tor.
Amicia nahm ihm die Rüstung ab und fand die steinerne Speerspitze, die sich tief in den Muskel am Hinterschenkel gebohrt hatte. Als sie sie herauszog, floss das Blut wie aus einem offenen Spundloch.
Sie redete schnell und fröhlich, sodass ihm gerade noch genug Zeit für den Gedanken blieb, wie schön sie doch war.
Lissen Carak · Die Äbtissin
Die Äbtissin sah zu, wie der Trupp des Hauptmanns auf der Straße nach Osten zog. Er bewegte sich so schnell, dass er bereits verschwunden war, als die Äbtissin ihren Adler zurückholte.
Ich habe meinen Rang an jeden Edelmann hier verraten, dachte sie und fragte sich, ob ihr diese Belagerung überhaupt noch ein Geheimnis übrig lassen würde.
Parcival, ihr großartiger Ferlander-Adler, mordete sich seinen Weg durch die Schwärme von Wildvögeln wie ein Tiger, der in einem Schafspferch losgelassen wurde. Aber sie erkannte, dass der große alte Vogel müde wurde, und so wirkte sie ihren Lockzauber – nur zur Sicherheit.
Sie wirbelte die Magie über ihrem Kopf herum, und Parcival sah sie, drehte bei dem Aufblitzen des tyrischen Rots um und gab die Verfolgung der besiegten Feinde auf. Er kam zu ihr wie ein Einhorn zu einer Jungfrau – scheu zuerst, doch dann eifrig darauf bedacht, eingefangen zu werden.
Er war zu schwer für sie, doch die junge Theodora half ihr und hatte das Gesicht bald voller Federn, da das Tier immer wieder mit den Schwingen flatterte, denn es war nicht daran gewöhnt, dass seine Herrin eine Helferin hatte. Doch schließlich gelang es ihr, ihm die Stulpen über die Krallen zu ziehen und die Haube aufzusetzen. Nun beruhigte sich der Adler, und die Äbtissin sagte: »Du bist mein tapferer Ritter. Du bist mein feiner Krieger – du armes altes Ding.« Der Adler war erschöpft, mürrisch und gleichzeitig sehr mit sich zufrieden.
Theodora strich ihm über Rücken und Schwingen, da richtete er sich auf.
»Gib ihm ein Stück Hühnchen, Liebes«, sagte die Äbtissin und lächelte die Novizin an. »Es ist wie bei einem Mann, mein Kind. Gib ihm niemals das, was er haben will – gib ihm nur das, was du ihm geben möchtest. Wenn er zu viel frisst, werden wir ihn nie wieder in die Luft schicken können.«
Theodora schaute vom Turm herab. Die Ebene und der Fluss befanden sich tief unter ihr, und das plötzliche Herabstoßen des Adlers aus dieser Höhe hatte die kleineren Vögel zerstreut.
Amicia kam aus dem Krankensaal mit einer Botschaft von Schwester Miram. Die Äbtissin las sie und nickte. »Sag Miram, sie soll alles benutzen, was sie braucht. Es hat keinen Sinn, jetzt noch Vorräte zu schonen.«
Amicias Blick war auf etwas anderes gerichtet. »Sie sind weg«, sagte sie. »Die Spione des Feindes. Sogar die Lindwürmer. Ich spüre es.«
Theodora schien erstaunt darüber, dass eine Novizin es wagte, die Äbtissin unmittelbar anzusprechen.
Doch der Äbtissin schien dies nichts auszumachen. »Du bist sehr einfühlsam«, sagte sie. »Aber an dieser Sache gefällt mir etwas nicht.« Sie ging zum Rand des Turms und blickte nach unten. Dort stand ein Rudel Nonnen auf der breiten Plattform des Torhauses und beobachtete das Ende des feindlichen Rückzugs sowie die allmählich sich auflösende Staubwolke, die den Weg des Hauptmanns markierte.
Eine der Nonnen verließ die Plattform und raffte die Röcke, während sie lief. Die Äbtissin fragte sich beiläufig, warum Schwester Bryanne in solcher Eile sein mochte, bis sie den Priester sah. Er befand sich auf der Mauer, war allein und betete laut für die Vernichtung des Feindes.
Das war in Ordnung, doch ansonsten war Pater Henry wie eine schwärende Pestbeule. Sein Hass auf den Hauptmann und seine Versuche, ihre Nonnen zu disziplinieren, ließen die beiden auf eine Auseinandersetzung zusteuern.
Doch die Belagerung schob jegliche Routine beiseite, und die Äbtissin befürchtete bereits, die Ordnung würde nie wieder einkehren. Und was war, wenn der Kaplan hinausging und starb?
»Was habt Ihr gesagt, Mylady?«, fragte Amicia. Die Äbtissin lächelte sie an.
»Oh, meine Liebe, wir alten Leute sprechen manchmal etwas laut aus, das wir eigentlich für uns hätten behalten sollen.«
Auch Amicia blickte nun nach Osten, wo noch immer ein
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