Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
jetzt vermag ich es noch weniger, da er sich an die Wildnis verkauft hat und ich mindestens ein Jahrzehnt in dem Gefängnis verbracht habe, das er für mich eingerichtet hat.«
Die Soldaten und der Kaufmann beobachteten diesen Wortwechsel wie Zuschauer in einem Turnier. Sogar der Hauptmann, dessen kostbare Anonymität sich am Rande der Entdeckung befunden hatte, schien ganz gefangen davon.
»Nur damit ich es richtig verstehe«, sagte er, »unser Feind ist tatsächlich ein Mensch?«
»Nicht mehr«, antwortete Harmodius. »Inzwischen ist er eine Wesenheit, die sich Thorn nennt. Ihre Macht verhält sich zu der meinen wie meine zu jener der Äbtissin.«
Der Priester am Ende des Tisches schrieb nicht mehr mit. Nun sah er sie alle mit großem Entsetzen an. Dem Hauptmann tat er beinahe leid. Seine Abneigung gegen alle, die die Macht hatten – sei sie hermetisch oder natürlich –, war wie die Abneigung der meisten Menschen gegen die Berührung mit einer Krankheit.
Der Hauptmann beugte sich vor. »Könnten wir vielleicht die Flut der Erinnerungen und Enthüllungen eindämmen und versuchen, uns auf die Belagerung zu beschränken?«, fragte er.
»Er hat Euch unterschätzt, und Ihr habt ihm wehgetan, doch das ist jetzt vorbei«, erklärte Harmodius. »Jetzt wird er uns wehtun.«
»Vielen Dank für diese Information«, meinte der Hauptmann.
»Da er nun unsere Zugänge zur Außenwelt versperrt hat, wird es keine Überraschungsangriffe und keine Siege mehr für uns geben.« Der Magus setzte sich zurück. »Und kommt nicht auf den Gedanken, dass ich mich ihm entgegenstellen könnte, denn dazu bin ich nicht in der Lage. Meine Gegenwart hier wird ihn nur noch mehr dazu anstacheln, diesen Ort einzunehmen.«
»Wir können noch immer Ausfälle mit der Aussicht auf Erfolg unternehmen«, beharrte der Hauptmann. »Mit Messire Randoms Karawane verfügen wir jetzt über mehr Soldaten und Bogenschützen als zu Beginn.«
Harmodius schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich nicht. Ich will nicht respektlos vor Euch erscheinen, denn Ihr habt Euch edelmütig verhalten. Aber die Schliche mit den Falken und Hunden wird nicht noch einmal glücken, und seine Klugheit – pardon, Hauptmann – ist mehr als beeindruckend. Innerhalb dieser Mauern wird er Verräter haben, und er wird daran arbeiten, Verräter auch innerhalb Eurer Truppen und der der Kaufmannschaft anzuwerben. Außerdem besitzt er die Möglichkeit, seine Fühler nach jeder Person unter uns auszustrecken, die die Macht besitzt. Wie stark ist Euer Wille, Mylady?«, fragte er.
»Er war noch nie sehr stark«, antwortete sie gleichmütig, »aber wenn es um ihn geht, werde ich stahlhart sein.«
Harmodius lächelte. »Das kann ich mir vorstellen, Mylady«, gab er zu.
»Selbst wenn er uns hier eingesperrt hat und seine Verbündeten jeden Tag gegen unsere Mauern schleudert, können wir es überstehen«, beharrte der Hauptmann.
»Das wird er nicht tun«, sagte Harmodius. Er lehnte sich vor, und es wirkte, als werde die Luft aus ihm herausgelassen; so plötzlich war die Veränderung, die er durchmachte. »Er wird versuchen, uns zu untergraben und zu zersetzen, denn nur so wird er ans Ziel gelangen. Er wird Tücke und Irreführung anwenden, denn er bevorzugt es, einen Verräter zur Öffnung des Tores einzusetzen, weil dies seinen eigenen Verrat entschuldigt. Und weil ihm der Gedanke gefällt, dass sein Verstand dem aller anderen überlegen ist.«
Dem Hauptmann gelang ein schwaches Lächeln. »Mein alter Schwertmeister pflegte zu sagen, dass ein guter Schwertkämpfer nicht nur siegen, sondern es auf seine ganz eigene Art und Weise schaffen will.«
»Sehr wahr«, meinte der Magus. »Hochmütig zwar, aber wahr.«
Der Hauptmann nickte. »Hochmut ist gewiss auch in Eurer Profession ein häufig auftretender Zug?«
Harmodius lächelte bitter.
Der Hauptmann lehnte sich vor. »Ich habe zwei Fragen, die Ihr mir sicherlich beantworten könnt. Ist er in der Lage, die Mauern unmittelbar anzugreifen? Mit einem Phantasma?«
»Niemals« antwortete die Äbtissin. »Diese Mauern haben ein halbes Jahrtausend von Gebeten und Phantasmata in sich, und keine Macht auf der Erde …«
»Doch«, unterbrach Harmodius sie und zuckte die Achseln. »Er ist nicht mehr Richard Plangere, der Edelmann und Magus, Mylady, der sich nun lediglich in Federn kleidet und ein wenig böse geworden ist. Er ist Thorn. Er ist eine Macht der Wildnis. Wenn er will, kann er die Mauern dieser alten Festung mit seiner Macht
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