Der Rote Mond Von Kaikoura
Wenn dein Großvater wieder richtig auf den Beinen ist, treffen wir uns sicher wieder häufiger.«
»Vielleicht solltest du Mr Ravenfield Bescheid geben, dass du jetzt bereit bist für die kleine Reise«, eröffnete ihr Großvater Lillian eines Morgens beim Frühstück.
Lillian verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffee. In den vergangenen Wochen hatte sie sich keine weiteren Gedanken um die Fahrt mit Ravenfield gemacht, ja, sie hatte nicht einmal Anstalten gemacht, sich eine Anstandsdame zu suchen. Und wen hätte sie auch bitten sollen? Mrs Peters vielleicht?
»Du guckst so erschrocken, willst du nicht mehr mit ihm fahren?«
»Doch … ich meine …« Lillian erinnerte sich wieder daran, dass Ravenfield ihr die Forscherin vorstellen wollte.
»Dann sollten wir ihm am besten eine Nachricht zukommen lassen, meinst du nicht?«
»Ja, natürlich«, entgegnete Lillian. »Und ich werde Mrs Peters fragen, ob sie mitkommen und die Anstandsdame spielen kann.«
»Brauchst du die wirklich?«, fragte ihr Großvater.
»Natürlich, denn ich bin eine anständige Frau!«, entgegnete Lillian, merkte aber, dass ihr Großvater sie auf den Arm nehmen wollte, denn natürlich begrüßte er es sehr, wenn sie die Anstandsregeln einhielt.
Leider konnte Mrs Peters nicht mitkommen, und da schließlich der Reisetermin vor der Tür stand und sie auch keine andere Anstandsdame fand, nahm sich Lillian vor, mit Ravenfield allein zu fahren. Was sollte schon passieren? Ravenfield mochte vielleicht veraltete Ansichten haben, aber bisher war er immer höflich und anständig gewesen.
Nachdem sie die ganze Nacht über vor Aufregung kein Auge zugetan hatte, huschte Lillian noch vor Sonnenaufgang in die Küche, um das Frühstück für ihren Großvater zu bereiten und für die Frauen, die auf ihn achtgaben, genaue Instruktionen zu hinterlassen.
Wohl war ihr nicht bei dem Gedanken, ihn so lange allein zu lassen, aber die Aussicht, in Christchurch mit einer Wissenschaftlerin zu sprechen und außerdem noch zu sehen, wo die Linsen für das Teleskop hergestellt werden sollten … das alles erschien ihr sehr verlockend.
Kurz vor sechs Uhr erschien Ravenfield dann auch, mit Mrs Peters im Schlepptau. Lillian gab ihr kurz ein paar Instruktionen und ging dann ins Zimmer ihres Großvaters, um sich von ihm zu verabschieden.
»Übermorgen bin ich wieder da, voraussichtlich am Nachmittag«, versprach sie. »Mach solange keine Dummheiten.«
Georg deutete mit einem spöttischen Lächeln auf sein eingegipstes Bein. »Welche Dummheiten sollte ich wohl auf meinen Krücken machen, außer vielleicht Mrs Peters in den Hintern zu kneifen?«
»Großvater, das wirst du …«
»War nur ein Scherz«, beschwichtigte Georg sie. »Ich werde mich natürlich tadellos benehmen. Außerdem kriege ich das mit den Krücken nicht hin, da würde ich umkippen.« Damit zog er sie an sich und küsste sie. »Viel Spaß in Christchurch, und pass auf dich auf.«
Draußen wurde sie bereits von Jason erwarte. »Nun, sind Sie bereit für das Abenteuer?«
»Und ob ich das bin!«, entgegnete Lillian und blickte sich dann noch einmal nach dem Haus um, während der Wagen anruckte.
Nach einer Übernachtung in einer kleinen Mission in der Nähe von Christchurch, in der sie äußerst freundlich aufgenommen worden waren, erreichten sie in den Mittagsstunden des folgenden Tagen die Hafenstadt. Das rege Treiben und die im Hafen einlaufenden Schiffe erinnerten Lillian an ihren ersten Tag hier, und sie konnte fast nicht glauben, dass nicht einmal zwei Monate seitdem vergangen waren. Wie viel hatte sich seither verändert! Wenn der Unfall ihres Großvaters nicht gewesen wäre, hätte sie behaupten können, dass ihr Leben momentan perfekt war.
»Der Laden ist dort hinten«, sagte Ravenfield, als sie die Main Street hinauffuhren. »Vielleicht sollten Sie mit der Frau des Inhabers sprechen, sie begeistert sich ebenso für die Wissenschaft wie Sie.«
Zu Lillians großem Erstaunen schien sich Ravenfield seit ihrem Streit vollkommen verändert zu haben. Er verhielt sich äußerst höflich und liebenswürdig, wobei Lillian es allerdings auch tunlichst vermied, irgendwelche heiklen Gesprächsthemen anzuschneiden.
»Das würde ich liebend gern«, entgegnete sie, während sie neugierig den Hals reckte. Wie würde wohl ein Laden aussehen, in dem man Zubehör für Teleskope kaufen konnte?
Zu ihrem großen Erstaunen entpuppte sich das Geschäft als Brillenmacher, der seinen Kunden auf Wunsch auch andere
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