Der Rote Mond Von Kaikoura
vorgesungen hatte.
»Heile, heile Segen, sieben Tage Regen, sieben Tage Sonnenschein, das Weh wird bald vergessen sein.«
Sofort erlahmte der Widerstand des Mädchens. Mit großen Augen blickte es Lillian ob der fremden Worte an, und diese nutzte die Gelegenheit, die Wunde an den Rändern mit Jod abzuwischen.
Kurz zuckte das Mädchen zusammen, als etwas von der Flüssigkeit an die Wunde kam, doch Lillian sang unbeirrt weiter, immer dieselbe Strophe, bis sich die Kleine beruhigt hatte und sie ihr schließlich auch den Kopfverband anlegen konnte.
»Mary!«, kreischte da eine Frauenstimme. Wenig später kam eine Frau zu ihnen gelaufen und warf sich neben der Kleinen auf die Knie. Das Mädchen fiel ihr sogleich um den Hals.
»Mama!«
Die beiden hielten sich eine Weile fest, während Lillian daneben saß und erneut mit den Tränen kämpfte. Welche Angst mochte diese Frau wohl auf der Suche nach ihrer Tochter ausgestanden haben?
Schließlich blickte die Frau sie mit tränenüberströmtem Gesicht an. »Sie haben mein Kind gerettet!«
»Das war nicht ich, das war einer der Männer«, entgegnete Lillian, doch die Frau wollte in ihrem Glück nichts davon hören. Sie presste ihr Kind an die Brust, stammelte immer wieder Dankesworte und ergriff schließlich Lillians Hand.
»Ich danke Ihnen vielmals, Miss, Gott segne sie!«
Als die Frau mit dem Kind davonging, richtete sich Lillian wieder auf und signalisierte mit einem Winken, dass der nächste Verletzte zu ihr gebracht werden könnte.
»Das haben Sie gut gemacht!«, sagte die Frau neben ihr, deren Patient gerade weggeschafft worden war. Viel hatte Lillian von ihm nicht mitbekommen, doch an der Miene der Frau konnte sie ablesen, dass das störrische Kind nicht so schlimm war wie das, was sie gesehen hatte. »Die Kleine war vollkommen hysterisch, das kommt vom Schock. Ihr was vorzusingen war genau richtig.«
»Ich habe nur getan, was mein Großvater auch getan hätte«, entgegnete Lillian, worauf die Frau ihr die Hand entgegenstreckte.
»Ich bin Rose Tennant.«
»Lillian Ehrenfels.«
»Ah, dann sind Sie die Enkelin des Sternguckers!«
Diese Worte ließen Lillians Magen zusammenkrampfen, denn plötzlich hatte sie wieder das Gesicht ihres Großvaters vor sich, Momente, bevor das Erdbeben über sie hereingebrochen war.
Reiß dich zusammen, sagte sie sich dann aber. Trauern kannst du später, jetzt musst du den Leuten helfen.
»Ja, die bin ich«, antwortete sie also, so beherrscht es ihr möglich war.
Bevor die Frau noch andere Fragen stellen konnte, kamen schon wieder ein paar Träger herüber.
Diesmal war der Verletzte ein alter Mann, der immer wieder leise einen Frauennamen rief. Lillian fiel es schwer, bei seinem Anblick nicht an ihren Großvater zu denken. Ihre Tränen unterdrückend, versorgte sie die Wunden des Fremden, so gut sie konnte, und rief dann ein paar Männer herbei, die ihn ins Lazarett bringen sollten.
»Lillian!«, ertönte plötzlich eine Stimme.
Als sie aufblickte, wankte eine staubbedeckte Frau auf sie zu. Mrs Blake war unter der dicken grauen Schicht kaum zu erkennen, doch offenbar hatte sie keine schweren Verletzungen davongetragen.
»Mrs Blake, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie, worauf die Frau sie umarmte. Lillian spürte, dass sie schluchzte.
»Es war furchtbar, einfach furchtbar«, klagte sie und löste sich dann wieder von ihr. »Gott sei Dank sind Sie verschont geblieben. Wo ist Georg?«
Lillian senkte den Kopf.
»Nein!«, presste die Frau atemlos hervor.
»Er ist noch vor dem Erdbeben gestorben. Heute Morgen ging es ihm furchtbar schlecht.«
Tränen schossen der Frau in die Augen. Sie presste die Hand vor den Mund, um nicht loszuschluchzen, doch es gelang ihr nicht, das Weinen zu unterdrücken. Lillian zog sie wieder in ihre Arme, und während sie sie festhielt, kamen ihr ebenfalls die Tränen.
Am Abend, als sie schließlich abgelöst wurde, wankte Lillian zum Sidewalk und ließ sich auf der Treppe eines Hauses nieder. Ihre Knochen fühlten sich bleischwer an, und vor ihrem geistigen Auge zogen die Bilder der vergangenen Stunden vorbei. Nie im Leben hätte sie sich träumen lassen, dass sie so etwas erleben würde.
»Das ist wie im Krieg«, hatte eine der älteren Frauen gesagt, unter deren Händen gerade ein Mann gestorben war. »Nur dass es niemanden gibt, den man dafür verantwortlich machen kann.«
Konnte man das wirklich nicht?
Lillian dachte wieder an Henares Worte angesichts des roten Mondes. Offenbar
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