Der Rote Mond Von Kaikoura
Schwesterntracht auf und musterte sie eindringlich.
»Ich wollte hier gern aushelfen. Ist das möglich?«
»Natürlich ist es das«, entgegnete die Schwester, ohne dass ihr Ton freundlicher wurde. Wie sollte er auch, dachte sich Lillian, bei all dem Schmerz und Tod ringsherum … »Komm mit, wir brauchen Hilfe in der Waschküche. Später kannst du bei den Patienten wachen.«
Schweigend folgte Lillian der Schwester hinter einen weiteren Vorhang. Von hier aus konnte sie einen Blick auf die Patienten werfen, die im großen Zelt untergebracht waren, wahrscheinlich die schlimmeren Fälle, die besonderer Zuwendung bedurften.
»Verzeihen Sie«, sprach sie die Schwester an, während diese zu einem Wäschestapel ging und eine der blauen Schürzen hervorzog.
»Was denn?«
»Wissen Sie vielleicht, ob Samantha Carson hier eingeliefert wurde?«
Die Schwester blickte sie ein wenig erstaunt an. »Keine Ahnung. Unter den Patienten, die ich betreut habe, war sie nicht.«
»Aber Sie kennen Sie, oder?«
»Und ob ich sie kenne! Wahrscheinlich hat ihr Vater sein Geld spielen lassen, um sie woanders als hier unterbringen zu können. Hier, zieh dir das über.«
Als Lillian das Zelt betrat, das als Waschküche für Instrumente und Verbandszeug diente, staunte sie nicht schlecht, als sie Rosie erblickte. Die junge Frau schien ebenfalls überrascht zu sein, denn ihr entglitt die Bürste, mit der sie die im Lichtschein blitzenden Instrumente abschrubbte.
»Stell dich dazu«, wies die Schwester sie an. »Gleich kommen neue Instrumente, bis dahin müssen die anderen fertig sein, damit wir sie gebrauchen können. Sieh zu, dass du dich nicht verletzt, das Karbol brennt ganz scheußlich in den Wunden.«
Und nicht nur dort, dachte Lillian, denn die Dämpfe trieben ihr bereits jetzt die Tränen in die Augen.
Ohne Widerspruch stellte sich Lillian neben Rosie. Soll sie doch spotten und mich mit Gemeinheiten überziehen, dachte sie. An diesem Tag habe ich weit Schlimmeres erlebt als das.
Doch Rosie sagte nur: »Da sind die Bürsten. Wenn dir schlecht wird, geh lieber raus und kotz nicht ins Becken.«
Vorsichtig griff Lillian in die Karbolwanne, deren Inhalt sich von dem Blut an den Instrumenten rot verfärbt hatte. Sie erwischte ein Skalpell mit erschreckend langer Klinge. Hatte dieses schaurige Gerät einem Verletzten helfen können?
Rosie hatte recht, die Dämpfe bissen nicht nur in ihre Lungen, sie erregten auch Übelkeit, die allerdings besser wurde, wenn Lillian nicht direkt in die rotbraune Brühe blickte. Eine ganze Weile putzte sie schweigend an dem Skalpell herum, dann wandte sich plötzlich Rosie an sie.
»Wieso bist du eigentlich hier?« Ihre Stimme triefte vor Spott. Das Unglück schien sie kein bisschen verändert zu haben. »Ich dachte, Ravenfield hätte dich abgeholt.«
»Das hat er nicht«, entgegnete Lillian gleichgültig, erschrocken über ihre heftigen Worte. »Ich habe mit ihm nichts mehr zu schaffen. Wenn du ihn haben willst, bitte.«
Rosie betrachtete sie prüfend, dann errötete sie plötzlich. »Er hat viele Dinge über dich erzählt.«
»Ich weiß. Und sie sind alle gelogen.«
Nachdem sie einen Moment geschwiegen hatte, fragte Rosie weiter: »Du willst also wirklich nichts von ihm?«
»Nein. Und wenn du klug wärst, solltest du auch nichts von ihm wollen. Er kann sehr charmant tun, doch du wirst schnell dahinterkommen, dass sich unter dem Schafspelz ein Wolf verbirgt.«
Rosie schwieg eine Weile, dann brach sie in Gelächter aus.
»Was ist so komisch?«, fragte Lillian, während sie das sauber geschrubbte Skalpell zu den anderen gesäuberten Instrumenten legte.
»Der Schafspelz …«, prustete Rosie, und Lillian fragte sich bereits, ob die Dämpfe ihren Verstand benebelten. Aber dann fiel es ihr ein. Natürlich! Ravenfield war Schafzüchter. Das war nichts, was sie sonderlich zum Lachen reizen würde, aber sie sah ein, dass ihre Gefährtin an der Karbolwanne nicht den Verstand verloren hatte. Sie lachte einfach, weil es nichts gab, was besser gegen das ganze Elend hier half.
»Hast du was von Samantha gehört?«, wagte Lillian zu fragen, als Rosie sich ein wenig beruhigt hatte.
Als sie Samanthas Namen erwähnte, breitete sich Traurigkeit auf Rosies Gesicht aus. »Das Haus ist eingestürzt. Mr Carson konnte wohl entkommen, aber seine Frau und Sam …« Sie stockte, senkte den Kopf und gab vor, ihr verzerrtes Spiegelbild in der Wanne betrachten zu wollen. Lillian sah, wie Tränen über ihre Nasenspitze
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