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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Laureen
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nicht schon von Geburt an mit allumfassendem Wissen ausgestattet?
    Bevor ich etwas dazu sagen konnte, kam der Mann auf mich zu. Sein Lächeln gefiel mir nicht; es ähnelte dem des Bootsmannes, bevor er mit der Knute auf die Schiffsjungen eindrosch.
    »Entschuldigen Sie, Sir, ich muss wieder nach unten«, sagte ich, ein wenig verwirrt und auch ein bisschen ängstlich. Offenbar hatte ich schon damals die Gabe, zu erkennen, wann ein Mensch ehrlich ist und wann er Böses im Schilde führt. Doch natürlich war ich noch zu jung und auch zu machtlos, um etwas dagegen zu tun, dass die Dinge kamen, wie sie dann kamen.
    Einige Wochen später passierten wir Australien, die Strafkolonie der britischen Krone, von der die wenigen Zurückgekehrten behaupteten, es sei der Brennofen des Teufels. Tatsächlich wurde es auch auf See sehr heiß, der Wind ließ des Öfteren nach, und wir schwitzten an und unter Deck gleichermaßen.
    Dazu kam für mich, dass sich der Engländer darauf verlegt hatte, mich bei jeder Gelegenheit zu beobachten. Ich konnte mir absolut nicht erklären, warum er das tat. Feindseligkeit spürte ich nicht an ihm, dennoch erschien er mir irgendwie gefährlich.
    Beim Anlegen in Neuseeland glaubte ich, ihn los zu werden, doch er bestand darauf, mich als seinen Assistenten zu behalten, solange das Schiff vor Anker lag, um Proviant aufzunehmen. Später fragte ich mich, ob ich dies hätte verweigern können, doch wahrscheinlich war das nicht der Fall. Als einfacher Matrose hätte ich es nie gewagt, einer Order des Kapitäns zu widersprechen.
    Bereits in der ersten Nacht, nachdem er mir großzügig angeboten hatte, in seinem Zelt zu übernachten, zeigte er sein wahres Gesicht.
    Ich schäme mich fast, es zu sagen, doch der Engländer wollte Dienste von mir, die ich ihm nicht zu geben bereit war.
    Ich kann heute nicht mehr sagen, was mich bewogen hat, nach der Lampe zu greifen und sie dem Mann über den Schädel zu ziehen. Doch ich tat es, als er mir an die Hose griff. Wie am Spieß schreiend stürmte er aus dem Zelt, seine Haare in Flammen. Diese brannten ihm auch bis auf die Kopfhaut hinunter, sodass der Schiffsarzt Tage damit zubrachte, die Verbände zu wechseln und ihn mit Schmerzpulver zu versorgen.
    Natürlich folgte die Strafe auf dem Fuße. Nicht der Engländer, der versucht hatte, mir Gewalt anzutun, wurde als der Schuldige angesehen, sondern ich, der Matrose, mit dem jedermann verfahren konnte, wie er wollte. Da wir uns fernab der englischen Gerichtsbarkeit befanden und es unmöglich war, mich der Polizei zu übergeben, beschloss der Kapitän, kraft seines Amtes selbst ein Urteil über mich zu fällen. Da der Engländer zwar Verbrennungen erlitten hatte, aber nicht lebensgefährlich verletzt worden war, sollte ich meine Schuld mit zwanzig Peitschenhieben büßen.
    Als mir das Urteil verkündet wurde, war ich den Tränen nahe. Auf allen Schiffen war es hin und wieder passiert, dass ein Matrose die Knute zu spüren bekommen hatte. Je niedriger der Rang eines Seemanns, desto eher tanzte die Peitsche auf seinem Rücken. Doch wie sollte ich zwanzig Peitschenhiebe aushalten?
    Lillian ließ das Buch sinken. Ihr Großvater war ausgepeitscht worden? Eigentlich klang das zu unglaublich, um wahr zu sein, aber wenn sie ein wenig nachdachte, fiel ihr auf, dass sie nie den blanken Rücken ihres Großvaters gesehen hatte. Die Totenwäsche hatten Frauen aus der Stadt erledigt. Sie selbst hatte ihn, wie es schicklich war, nur angekleidet oder vielleicht einmal im Nachthemd zu Gesicht bekommen.
    War die Erinnerung an seine Bestrafung schuld daran gewesen, dass er nicht über seine Zeit hier sprechen wollte? Und dass manchmal ein dunkler Schatten auf seinem Gesicht erschienen war?
    Da es inzwischen zu dunkel war, um ohne Licht zu lesen, entzündete sie eine Petroleumlampe und setzte dann ihre Lektüre fort.
    Das Urteil wurde im Busch vollstreckt, fernab vom Schiff. Mein einziger Trost war, dass mein Angreifer wegen seiner Wunden der Bestrafung nicht beiwohnen konnte. Die Peitschenhiebe waren wohl das Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben erlebt habe, abgesehen von dem Schmerz, den der Verlust eines geliebten Menschen mit sich bringt. Als der Bootsmann fertig war, hing ich mehr tot als lebendig in den Seilen, nachdem man zwischendurch immer wieder dafür gesorgt hatte, dass ich aus meiner Ohnmacht erwachte, sobald ich das Bewusstsein verlor.
    »Lasst ihn hier«, hörte ich den Bootsmann sagen, der nicht gerade für seine milde

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