Der Rote Mond Von Kaikoura
Muster eingeritzt waren.
Der Gedanke, dass hier vielleicht einmal Menschenopfer dargebracht worden waren, durchzuckte mich so jäh, dass ich unwillkürlich einen Schritt nach hinten machte.
»Du musst stehen bleiben«, bedeutete der Heiler mir und zeigte auf die Platte. »An diesem Ort viel mana. Papa und rangi werden dich hier sehen.«
In diesem Augenblick glaubte ich fest daran, dass ein Blitz niedergehen und mich zu Asche verbrennen würde. Doch dann hob der tohunga zu seinem Gesang an und zauberte schließlich ein seltsames Instrument hervor, das wie eine dicke Flöte wirkte und am unteren Ende eine riesige Muschel trug.
Die Melodie, die er daraus hervorzauberte, wirkte im ersten Moment auf mich wie der Schrei eines wilden Tieres, doch dann erkannte ich eine Melodie, die hoch über den Platz getragen wurde. Verzaubert schloss ich die Augen.
Vielleicht wohnte dem Stein unter meinen Füßen doch eine Art Magie inne, vielleicht fand das alles auch nur in meinem Kopf statt, vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem – aber auf einmal fühlte ich mich, als würde ich vom Boden abheben und weit über den Baumwipfeln schweben. Ich hätte die Augen öffnen können, um mich zu vergewissern, dass dem nicht so war, doch das wollte ich nicht. Ich ließ mich von der Melodie tragen und nahm auf einmal alles um mich herum stärker wahr. Das Streicheln des Windes, die Gerüche des Waldes und der Pflanzen auf dem Platz, ja, sogar die Steine meinte ich zu riechen! Als die Melodie plötzlich aufhörte, war es, als würde ich aus großer Höhe abstürzen. Panisch keuchend riss ich die Augen auf und bemerkte, dass ich weder fiel noch sonst etwas nicht in Ordnung war. Ich stand noch immer auf der Steinplatte. Der Heiler hatte sich ebenfalls nicht vom Fleck gerührt. Die seltsame Flöte hielt er in der Hand.
»Was du hast gefühlt?«, fragte er mich. Sicher wollte er wissen, ob die bösen Geister aus mir ausgefahren waren.
»Ich kam mir vor, als würde ich fliegen«, antwortete ich, in der Hoffnung, dass ihm das genügen würde. »Dieses Instrument da ist unglaublich!«
Der Heiler lächelte schmal. »Du hast gehört Stimme von Göttern. Jetzt wir sehen, ob Geister fort sind.«
Ich hätte damit gerechnet, dass er noch irgendein Ritual abhalten oder mir noch einen Trank einflößen würde. Doch er ging mit leicht gesenktem Kopf an mir vorbei.
Ich blickte ihm verwirrt nach, dann wandte ich mich um und sah hinunter zu den Bäumen, die unterhalb des Felsvorsprunges ihre Kronen gen Himmel reckten. Beinahe wirkten sie wie eine grüne Matte, die denjenigen, der von dem Felsen sprang, auffangen würde.
Vielleicht waren die Geister wirklich aus mir ausgefahren, vielleicht hatte das Lied auch meine Sinne verändert. Auf jeden Fall kam mir der Himmel auf einmal so blau vor wie nie, und auch das wieder einsetzende Vogelgezwitscher klang wesentlich schöner in meinen Ohren. Mein Herz fühlte sich frei, und in diesem Augenblick wollte ich mir einfach nicht eingestehen, dass die Nachricht von der Mission in der Nähe doch größeren Anteil an der Verbesserung meines Zustandes hatte als das Lied des Heilers.
Schließlich machten wir uns wieder auf den Rückweg. Mittlerweile hatte sich auch der Nebel in den Bäumen ein wenig aufgelöst, sodass ich hin und wieder buntes Gefieder zwischen den dicht belaubten Ästen ausmachen konnte.
»Ich habe dich bisher noch gar nicht gefragt, wie dein Name lautet«, sagte ich, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gegangen waren.
»Aperahama«, antwortete mein Begleiter lächelnd. »Und du heißt bei den pakeha George.«
Als ich verblüfft die Augenbrauen hob, erklärte er: »Ich habe gehört, wie dich pakeha gerufen. Kein guter Name für Maori; wenn du bleibst, wir geben dir einen neuen.«
Ich wusste nicht, warum, doch auf einmal kam es mir gar nicht mehr schlimm vor, eine Weile hier zu bleiben. Aperahama hatte alles getan, um mich wieder gesund zu machen. Das konnte ich von den Weißen auf meinem Schiff nicht gerade sagen.
»Und welchen Namen würdet ihr mir geben?«
»Das muss sich erst noch zeigen an dem, was du kannst und tust. Wenn du geboren wirst als Maori, dein Vater sagt Name für dich. Wenn du später Maori wirst, deine Taten sagen Name für dich.«
In dem Augenblick überlegte ich, welchen Namen ich wohl verdient hätte. Vielleicht gab es eine Maori-Bezeichnung für »Seemann«? Doch wollte ich das wieder sein? Oder eher etwas anderes?
Als wir ins Dorf zurückkehrten,
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