Der Rote Mond Von Kaikoura
schließlich nach draußen, denn bei einer Geburt hatte ein nervöser Vater nichts zu tun. Vor der Hütte erwarteten mich bereits ein paar andere Männer, die mir ermutigend auf die Schulter klopften. Sie erzählten mir, dass bei ihren Frauen alles recht schnell gegangen sei, und so hoffte ich, dass auch mein Kind bald das Licht der Welt erblicken würde. Doch auch nach Stunden ertönte kein Schrei, nur Ahanis schmerzvolles Wimmern und Stöhnen.
Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Natürlich wusste ich, dass Geburten manchmal sehr lange dauern konnten, doch mein Gefühl sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Es war so, als würde Ahanis Seele stumm nach mir rufen, mich um Hilfe bitten.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging zur Hütte. Auf dem Weg dorthin vernahm ich einen lauten Schrei, der mir das Blut in den Adern stocken ließ.
Ahani!
Für eine ganze Weile konnte ich mich nicht rühren. Mit angehaltenem Atem und geschlossenen Augen lauschte ich, doch außer dem Wind, der die Baumkronen zum Rauschen brachte, konnte ich nichts hören.
Ich öffnete die Augen erst wieder, als mich jemand am Arm berührte. Aperahama schien in den vergangenen Stunden um Jahre gealtert zu sein.
»Du hast einen Sohn«, sagte er, doch in seiner Stimme schwang keine Freude mit. Als mir klar wurde, warum, gefror mein Herz zu Eis.
»Ahani ist zu den Göttern gegangen«, sagte er leise. »Du musst dich jetzt um deinen Sohn kümmern.«
Doch dazu war ich nicht in der Lage. Ich weiß nicht, wie lange ich um meine geliebte Ahani weinte. Die Tage gingen fließend in die Nächte über, ohne dass ich etwas fühlte oder tun konnte. Ich wäre ihr am liebsten in den Tod gefolgt, doch das durfte ich wegen meines kleinen Sohnes nicht. Jedenfalls legte mir der Heiler das ständig ans Herz.
»Du solltest in deine Heimat gehen«, schlug Aperahama eines Tages vor. Kurz zuvor waren neue Siedler eingetroffen, die an der Küste eine Stadt errichten wollten. »Wenn sich die Engländer hier ausbreiten, werdet ihr nicht sicher sein.«
Hatte es mir vor etwas mehr als einem Jahr noch großen Schrecken bereitet, nie wieder von hier wegzukommen, erschreckte es mich nun mindestens ebenso sehr, hier wegzumüssen.
»Aber mein Sohn … Hirini … er ist einer von euch.«
»Und das wird er auch bleiben, selbst in der Ferne. Du bist sein Vater, niemand kann besser für ihn sorgen. Wenn du hier bleibst, wirst du vor Schmerz sterben.«
Damit hatte er recht. Alles hier erinnerte mich an Ahani, den heiligen Ort hatte ich seitdem nicht mehr aufgesucht, und manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich darauf hoffte, dass sie in unsere Hütte treten und mir lachend erklären würde, dass alles nur ein schlimmer Traum gewesen sei.
»Hier«, sagte Aperahama, und legte mir den kleinen Jungen in die Arme, dessen Haut heller als die anderer Maori war, der aber dennoch unverkennbar die Züge seines Volkes trug. »In seinen Adern fließt auch das Blut von Ahani. Nimm ihn mit und mach aus ihm einen guten Krieger. Und versprich mir, dass du ihn eines Tages wieder hierher bringst, in das Dorf seiner Mutter.«
»Das verspreche ich«, sagte ich, seltsam getröstet durch den Anblick des Kleinen, der seine sternförmigen Händchen nach mir ausstreckte.
Verwirrt hob Lillian den Kopf. Ihre Großmutter war also nicht ihre Großmutter Anna, sondern die Tochter eines Maori-Häuptlings. Und wenn ihr Großvater davon gesprochen hatte, dass er seit ihrer Großmutter keine Frau mehr geliebt hatte, so hieß das wohl, dass diese Liebe nicht seiner offiziellen Ehefrau gegolten hatte, sondern immer dem schönen Maori-Mädchen.
Lillian ließ das Büchlein sinken und blickte aus dem Zelteingang auf die Baustelle. Mittlerweile hatte die Nacht einen schützenden Mantel um die Ruine gelegt.
Die Sternwarte war nicht das Versprechen gewesen – sie war es. Sie war die Urenkelin eines Häuptlings, genauso wie Henare der Sohn eines Häuptlings war. Was er wohl dazu sagen würde, dass ihrer beider Wurzeln ein und derselbe Stamm waren?
Mit dem Büchlein in der Hand trat sie für einen Moment vors Zelt. Die Sterne verbargen sich heute hinter einem Wolkenschleier, der beleuchtet wurde von diffusem Mondlicht.
Lillian fragte sich, wo Henare war. Seit er sie in ihre Unterkunft gebracht hatte, hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. War er in seinem Zelt?
Der Drang, die Geschichte ihres Großvaters weiterzulesen, war schließlich stärker, als nachzusehen, was Henare gerade tat. Noch
Weitere Kostenlose Bücher