Der Rote Mond Von Kaikoura
gehöre.«
Henare setzte sich auf und zog sie an den Schultern sanft herum. Unverständnis lag in seinem Blick. »Was sagst du da?«
»Dass ich eine von euch bin. Jedenfalls zu einem Viertel. Mein Großvater war in seiner Jugendzeit eine Weile hier und freundete sich mit einem Heiler namens Aperahama an.«
Lillian verstummte, als Henare hörbar einatmete.
»Was ist mit dir? Hätte ich es dir lieber nicht erzählen sollen?«
Henare schüttelte den Kopf. »Nein, erzähl es mir ruhig, ich will die ganze Geschichte hören.«
»Und warum hast du bei der Erwähnung des Heilers so nach Luft geschnappt?«
»Aperahama ist immer noch der Heiler meines Dorfes. Er war schon ein alter Mann, als ich noch ein Kind war. Manche von uns meinen, er sei unsterblich, weil seine Heilkunst sein Leben immer wieder verlängere.«
Lillian erzählte ihm in aller Kürze das, was sie in den Aufzeichnungen gelesen hatte. Von der Auspeitschung bis zu der Abreise mit Georgs Sohn aus Neuseeland.
»Dann muss dein Urgroßvater der Vorgänger meines Vaters gewesen sein«, erklärte Henare, nachdem sie geendet hatte, und schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben.«
»Aber es ist wahr, sonst hätte es mein Großvater nicht aufgeschrieben. Er war ein guter Astronom, aber kein Dichter. Er hat nur notiert, was er auch wirklich erlebt hat.«
Während sie von ihrem Großvater sprach, erwachte erneut das schmerzhafte Brennen der Trauer in ihrer Brust. Es hätte ihm sicher gefallen, dass sie jetzt zu dem Stamm ritt, bei dem er so lange gelebt und so viel erlebt hatte. Und dass Henare sie seinem Vater vorstellen wollte.
Der Maori lächelte sie liebevoll an. »Es wird meinem Vater gefallen, dich kennenzulernen. Wollen wir hoffen, dass er noch am Leben ist, wenn wir dort ankommen.«
»Steht es denn so schlecht um ihn?«
»Schlechter als beim letzten Mal, als ich ihn zu Gesicht bekommen habe. Und wie man bei deinem Großvater gesehen hat, ist der Wille der Götter manchmal unfassbar für uns Menschen. Aber er würde die Geschichte deines Großvaters sicher hören wollen. Vielleicht erinnert er sich an deine Großmutter.«
Noch war mit dem Wort Großmutter für Lillian das Bild verbunden, das ihr Großvater von Anna besessen hatte, und sie wusste auch nicht, ob das jemals anders sein würde. Aber es interessierte sie schon, ob noch jemand wusste, wer die große Liebe ihres Großvaters gewesen war.
Als sie wenig später weiterritten, war ihr Herz voll seltsamer Vorfreude, und für einen Moment erschien ihr die Trauer um ihren Großvater ein wenig leichter.
Auch das Maori-Dorf war von dem Erdbeben nicht verschont geblieben. Ein paar Hütten waren eingestürzt, ein riesiger Spalt klaffte an einem Ende des Dorfes wie ein Maul, das versucht hatte, hier alles zu verschlingen.
Nur dem großen Haupthaus schien das Wüten der Erde nichts ausgemacht zu haben. Noch immer blickten die geschnitzten Gesichter energisch vom Dach auf die Besucher.
Aufregung überkam sie plötzlich, obwohl sie den Häuptling schon einmal gesehen hatte. Als was würde Henare sie vorstellen? Als seine Braut? Als das Mädchen, das er liebte? Letzteres war am wahrscheinlichsten, und obwohl das keineswegs falsch oder peinlich war, fürchtete sich Lillian ein wenig, dem ariki unter die Augen zu treten. Würde sie auch den haka überstehen müssen wie ihr Großvater?
Nachdem sie ihre Pferde angeleint hatten, legten sie den Rest des Weges zu Fuß zurück.
Vor der Hütte des Häuptlings, die Lillian nur von Weitem zu Gesicht bekommen hatte, machten sie schließlich halt.
»Du bist aufgeregt, nicht wahr?«, sagte Henare, während er ihre Hände nahm. Lillian nickte.
»Das brauchst du nicht. Mein Vater hat sich an dich erinnert, er meinte, dass du eine schöne Frau bist. Er wird dich mögen, das verspreche ich dir.«
Von dem Mann in dem prachtvollen Federmantel war nicht viel übrig geblieben. Knapp drei Monate hatten seinen Zustand noch weiter verschlechtert.
Lillian hatte Mühe, ihr Erschrecken über seinen Zustand zu verbergen. Dennoch trat sie ein und bemerkte, dass der alte Heiler bei ihm war und ein Gefäß mit duftendem Rauch über seinem Körper schwenkte. Einen Moment später beendete er seine Handlung und nickte Lillian zu. » Haere mai. Ich hätte mir denken können, dass du das Mädchen bist, von dem Henare gesprochen hatte.« Er blickte auf seinen Patienten, der langsam den Kopf drehte. Ein seltsam friedlicher Ausdruck lag auf dem Gesicht des Mannes. Offenbar hatte Henare
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