Der Rote Mond Von Kaikoura
dem Maori, den Verletzten vom Pferd herunterzuheben. Eigentlich war er viel zu schwer für sie, doch in diesem Augenblick der Verzweiflung und Angst hätte sie ihn vielleicht auch ganz allein tragen können.
Der alte Mann sah zunächst Henare an, dann wandte er sich an sie.
»Was ist passiert?«
»Er ist angeschossen worden«, erklärte Lillian. Der Name des Schuldigen blieb ihr im Hals stecken. Angesichts der Dinge, die Henare ihr erzählt hatte, würden sich womöglich einige junge Männer genötigt sehen, Schritte gegen die pakeha zu unternehmen. Schritte, die sie bestimmt bereuen und die zudem ihr Volk ins Unglück stürzen würden. Natürlich würde ans Tageslicht kommen, was geschehen war, sie konnte die anderen Männer unmöglich darauf einschwören, nichts zu sagen. Doch jetzt war ohnehin nur Henare wichtig.
Das schien auch Aperahama so zu sehen, der glücklicherweise nach keiner genaueren Erklärung verlangte. Er sagte etwas zu dem Krieger, worauf dieser Henare in die Mitte der Hütte legte und dann loslief.
»Was werden Sie tun?«, fragte Lillian unruhig.
»Ich muss die Kugel herausschneiden. Aber dazu benötige ich die Hilfe meiner Enkelin.«
»Sie meinen, Sie können ihn operieren?«
Der alte Heiler nickte. »Ja, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, denn eine Kugel ist kein Geist, den man einfach so mit einem karakia aus dem Körper eines Menschen verbannen kann.« Er beugte sich über Henare, der inzwischen vollständig das Bewusstsein verloren hatte, und öffnete ihm vorsichtig die Weste und das Hemd.
Wenn er nun stirbt, durchzuckte es Lillian, was wird dann aus mir?
Dann werde ich zu allererst dafür sorgen, dass Ravenfield hinter Gitter kommt, dachte sie grimmig, doch gleichzeitig wusste sie, dass ihr auch das Gericht den geliebten Menschen nicht zurückgeben konnte. Niemand konnte das.
Der Heiler machte sich unverzüglich an die Arbeit. Offenbar hatte auch er einige Vorzüge der Weißen entdeckt, denn aus dem Futteral zog er ein Skalpell und eine Zange, die er wohl in der Stadt oder von einem Reisenden erworben haben musste. Seine Hände waren bei der Arbeit erstaunlich ruhig.
Als Henare vor Schmerz wieder erwachte, beugte sich Lillian über ihn und streichelte sein Gesicht.
»Es wird wieder gut«, flüsterte sie unter Tränen. »Alles wird wieder gut.«
Der Heiler machte weiter, bis er schließlich die Kugel fand und herauszog.
Henare schrie ganz furchtbar auf, dann sank er in tiefe Bewusstlosigkeit.
»Was ist mit ihm?«, fragte Lillian erschrocken, während der Heiler die Kugel neben sich auf den Boden warf und dann einen Lappen auf die Wunde drückte.
»Die Kugel ist draußen, er braucht einen Verband. Er ist nur ohnmächtig; das war dein Großvater auch, als ich ihn gefunden habe.«
»Wirst du ihn retten können?«
Weder nickte der Heiler, noch verfinsterte sich sein Gesicht. »Es liegt in der Hand der Götter. Aber meine Beziehungen zu ihnen sind noch recht gut, ich glaube, ich werde sie dazu bringen, ihn bei dir zu lassen. Jetzt muss er aber verbunden werden. Und dazu brauche ich deine Hilfe.«
Die ganze Nacht über hielten sich Lillian und Aperahama mit Geschichten wach. Lillian berichtete ihm von ihrer Freundin und dem Leben in Köln; der Heiler erzählte ihr Geschichten über seinen Freund und schmückte das, was sie über ihren Großvater wusste, noch ein wenig aus.
Als Henare begann, sich mit schmerzvollem Stöhnen hin und her zu werfen, meinte der tohunga : »Es ist an der Zeit, den Geist zu vertreiben, der mit der Kugel in ihn gefahren ist. Ich werde das entsprechende karakia spielen.«
Während Lillian ihrem Geliebten sorgenvoll über die Stirn streichelte, holte der Heiler ein seltsames Instrument, das an eine Flöte erinnerte.
»Das ist eine nguru«, erklärte der Heiler. »Damit lassen sich die Geister am besten vertreiben.«
Und er begann zu spielen. Die Melodie war eine vollkommen andere als jene, die Henare gespielt hatte. Lillian empfand sie als wesentlich intensiver, und offenbar schien der Geist in Henare darauf anzusprechen. Sein Körper zuckte zusammen, Schweiß trat auf seine Stirn. Die Töne füllten mühelos die Hütte, drangen sicher weit darüber hinaus, doch niemand zeigte sich, um nach ihm zu sehen.
Als das Lied beendet war, beruhigte sich Henare wieder. Der Heiler legte seine Hand auf die Brust des Verletzten, dann nickte er.
»Der Geist ist fort. Jetzt müssen wir weiter warten.«
Lange hielt Lillian das Warten allerdings nicht mehr
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