Der Rote Mond Von Kaikoura
aus. Obwohl die Sorge um Henare in ihr brannte, fielen ihr die Augen zu, und sie versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Erst als der Gesang der Morgenvögel in die Hütte drang, erwachte sie wieder.
Henare lag noch immer neben ihr auf der Matte; auf seinem Verband zeigte sich ein angetrockneter Blutfleck.
Als sie ihm übers Haar strich, spürte Lillian, dass seine Stirn kalt war. Erschrocken fuhr sie auf und lauschte nach seinem Atem – bis sie sah, dass sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Sie wollte Aperahama rufen, doch der war nirgendwo zu sehen.
»Henare?«, wisperte sie leise, während sie seine Wangen streichelte. »Denk an dein Versprechen, dass du mich nicht verlässt.«
»Das werde ich auch nicht«, flüsterte er schwach und schlug dann die Augen auf, die verklebt waren von Schweiß und Tränen.
Lillian schnappte nach Luft. »Du bist wach.«
»Schon eine Weile«, entgegnete er, doch es kostete ihn große Anstrengung. »Wo bin ich?«
»In Aperahamas Hütte. Und du solltest jetzt nicht mehr sprechen, du willst doch nicht, dass irgendwelche bösen Geister in deinen Körper fahren.«
Henare gab sich geschlagen und schloss mit einem kleinen Lächeln die Augen. Lillian beugte sich über ihn und küsste ihn.
In dem Augenblick trat der Heiler ein.
Lillian blickte erfreut auf. »Er ist wach! Und er hat mit mir geredet!«
Aperahama nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis, doch Freude zeigte sich nicht auf seinem Gesicht. »Der ariki ist in der vergangenen Nacht zu den Göttern gegangen. Wir müssen Henare schnell wieder auf die Beine bringen, damit er sich zur Wahl stellen kann.«
Lillian sah Henare an, der die Augen wieder geöffnet hatte. Wortlos nickte er ihr zu.
Epilog
»Was schreibst du nur die ganze Zeit«, sagte Henare, während er sich über sie beugte und ihr einen liebevollen Kuss gab. »Das können doch keine Sterntabellen sein.«
»Ich habe Adele eben viel zu berichten«, entgegnete sie und legte ihre Feder zur Seite. »Du solltest dich lieber um deine Zeremonie kümmern. An deiner Stelle wäre ich ziemlich aufgeregt.«
»Warum denn, es ist doch nur eine Zeremonie.« Liebevoll zog er sie in seine Arme. »Ich bin wesentlich aufgeregter, wenn ich daran denke, dass es auf der Baustelle endlich weitergeht. Das neue Baumaterial ist gestern gekommen.«
»Ach, nur wegen des Baumaterials bist du aufgeregt?«
Henare lächelte breit. »Nein, auch aus vielen anderen Gründen. Aber die nenne ich dir heute Abend, wenn wir meine Ernennung zum Häuptling feiern.«
»Ich bin überaus gespannt!« Lillian beugte sich vor und küsste ihn leidenschaftlich, dann schickte sie ihn aus der Hütte, denn er musste sich wirklich vorbereiten.
Sie würde bei der Zeremonie natürlich zugegen sein, doch vorher wollte sie den Brief an Adele beenden.
Die zurückliegenden zwei Wochen waren sehr aufregend gewesen. Zum einen hatte sie weitere Briefe von Adele erhalten, und das, obwohl die Post zwischen Kaikoura und Christchurch immer noch nicht wieder regelmäßig verkehrte.
Zum anderen war es zu weiteren Erdstößen gekommen, doch außer dem ohrenbetäubenden Grollen hatten sie hier im Dorf nur leichte Vibrationen verspürt, die keine Schäden mehr anrichteten.
Kaum war diese Aufregung überstanden, wurde der alte ariki des Stammes begraben. Dazu fanden sich alle Mitglieder des Stammes und auch Lillian beim heiligen Ort ein, wo Henare ein karakia sang und zum Zeichen des Aufstiegs der Seele seines Vaters eine Taube gen Himmel schickte. Die Krieger des Stammes tanzten daraufhin ein haka, und das, was sie ausriefen, war ihr seltsam bekannt. Ohne zu wissen, was ihre Bedeutung war, hatte sie die Worte, die die Männer während des Tanzes riefen, schon einmal gehört: »Ka mate!« Und später hatte sie sie auch in den Aufzeichnungen ihres Großvaters gelesen.
Sie sprach mit Henare darüber, kurz nachdem der Leichnam bestattet und die Trauerrunde auseinandergegangen war.
»Es heißt übersetzt ›Ich sterbe‹ oder ›Das ist der Tod‹. Es ist Teil eines uralten Liedes, das von einem Häuptling geschrieben wurde. Es erinnerte an seine Todesangst, und wie er aus der tödlichen Gefahr errettet wurde. Es wird sehr oft rezitiert, wenn eine angesehene Person des Stammes den Ahnen übergeben wird.«
»Dann scheint das Maori-Blut in mir wirklich stark zu sein, denn ich habe von diesen beiden Worten geträumt, als wir nach Neuseeland reisten«, offenbarte Lillian ihm. »Offenbar haben mich die Götter warnen
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