Der Rote Mond Von Kaikoura
nicht zu übersehen, doch er sprach Englisch, als sei es seine Muttersprache. Darüber hinaus kam Georg etwas an ihm bekannt vor. Natürlich war das absurd, denn als er in dieser Gegend gewesen war, war sicher noch nicht einmal Henares Vater geboren. Und dennoch erinnerte er ihn an jemanden – auch wenn die Zeit die alten Bilder ausgeblichen und verwaschen hatte.
»Sie sind Maori, nicht wahr?«, fragte Georg und erntete einen halb erschrockenen, halb misstrauischen Blick.
»Ja, das bin ich. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.«
»Keineswegs! Vor langer Zeit hatte ich mal einen Freund …« Georg brach mitten im Satz ab. Nein, das würde zu weit gehen. Henare sah ihn abwartend an, doch Georg hatte nicht vor, ihm die Geschichte ganz zu erzählen. »Nun, wie dem auch sei … wissen Sie ein Lokal, in dem man um diese Zeit eine gute Tasse Tee bekommt?«
»Aber natürlich, Sir«, entgegnete Henare lächelnd. »Kommen Sie, hier entlang.«
Während der junge Mann ihn über die belebte Hauptstraße führte, fragte sich Georg immer noch, an wen Henare ihn erinnerte. Verdammter rostiger Verstand, dachte er sich, aber dann roch er auch schon einen berauschenden Duft. Durch die offen stehenden Fenster der Teestube, der sie sich näherten, strömte der Duft von Tee und frisch gebackenem Kuchen. Als sie unter dem Gebimmel der Türglocke eintraten, kam ihnen eine Frau in schneeweißer, gestärkter Schürze entgegen und lächelte sie gewinnend an.
Georg blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Die Art, wie die Frau ihr von einigen Silberfäden durchzogenes dunkles Haar trug, erinnerte ihn an die Frau, die er einst heiß und innig geliebt hatte. Sie hatte eine ähnliche Frisur getragen, doch ihr Haar hatte nie die Gelegenheit gehabt, silbern zu werden.
Die Frau vor ihnen, offenbar die Ladeninhaberin, musste Mitte oder Ende fünfzig sein. Obwohl ihr Gesicht von feinen Linien durchzogen war, konnte man immer noch die Schönheit erkennen, die sie in jungen Jahren besessen haben musste.
»Guten Tag, Mrs Blake«, grüßte Henare höflich.
Erst jetzt bemerkte Georg, dass noch andere Leute in der Teestube saßen und die beiden Neuankömmlinge neugierig musterten.
»Guten Tag, Mr Arana, schön, Sie mal wieder hier zu sehen!«
»Mr Ehrenfels und ich würden gern Tee bei Ihnen trinken.«
Das Lächeln der Frau verbreiterte sich, als sie Georg mit funkelnden Augen ansah.
»Aber sicher doch, suchen Sie sich einen Platz, ich bin gleich bei Ihnen.«
Kurz nachdem sie sich an einem kleinen Tisch neben einem der Fenster niedergelassen hatten, erschien die Wirtin auch schon mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne nebst zwei Tassen stand. Georg war sicher, dass er noch nie etwas Köstlicheres gerochen hatte.
»Ceylon«, kommentierte sie, während sie den Tee in die Tassen goss. »Ich hoffe, er schmeckt Ihnen. Seit Kurzem macht diese Teesorte dem guten alten Darjeeling kräftig Konkurrenz; ich persönlich finde ihn wesentlich besser als die Teesorten aus Indien.«
»Auf Ihr Urteil vertrauen wir, Mrs Blake.«
»Möchten Sie etwas von meinem Teekuchen probieren? Ich habe gerade einen neuen aus dem Ofen geholt, er ist noch ganz frisch.«
»Es wäre uns ein Vergnügen!«, entgegnete Henare, nachdem er Georg angesehen und dieser zustimmend genickt hatte.
»In Ordnung, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Als sie ihn beim Umwenden mit ihrem Rock streifte, meinte Georg Rosenduft zwischen dem Aroma des Tees zu riechen. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann rauschte Mrs Blake davon.
Für einen Moment sah er ihr wie erstarrt nach, dann wandte er sich an den Maori. »Sie scheinen öfter hier zu sein.«
Henare nickte. »Mrs Blake ist eine gute Seele. Als ich in die Stadt kam, war sie diejenige, die mir eine Anstellung verschafft und mir zu einer Bleibe verholfen hat. Ich bin ihr sehr dankbar. Beinahe ist sie so etwas wie eine zweite Mutter für mich geworden.«
»Dann wissen Sie sicher einiges über sie, oder?« Ehe es Georg verhindern konnte, waren diese Worte aus seinem Mund geschlüpft. Als er es bemerkte, errötete er.
Henare neigte den Kopf ein wenig zur Seite, dann lächelte er. »Sie ist eine schöne Frau, nicht wahr?«
»Ja, das ist sie.« Verlegen blickte Georg in seine Teetasse. Auf dem rötlich braunen Tee spiegelte sich seine etwas verwirrte Miene.
»Nun ja, besonders viel weiß ich nicht über sie. Sie tut zwar sehr viel für ihre Mitmenschen, doch sie redet kaum über sich. Aber ich weiß, dass sie seit etwa zehn
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