Der Rote Mond Von Kaikoura
er auf meine Fragen diesbezüglich meist nur mit einem Brummen oder versucht davon abzulenken. Aber ich sehe es ihm deutlich an und werde ihn im Auge behalten, um hinter sein Geheimnis zu kommen, das ich Dir sofort mitteile, sobald ich Genaueres weiß.
Nun aber genug von mir. Wie ist es jetzt in Köln? Hat die Debütsaison, auf die Du Dich so sehr gefreut hast, schon begonnen?
Ich wünsche Dir alles Glück der Welt und auch, dass Du bei all den Festen nicht nur einen wunderbaren Mann kennenlernst, sondern vielleicht auch ein wenig an mich denkst.
In Liebe,
Lillian
Noch hatte sie ihn nicht verschlossen, denn sie wollte Adele noch eine kleine Beigabe zwischen die Bögen tun.
Vor etwas mehr als einer Woche hatte sie beim Spaziergang am Strand einen kleinen Seestern gefunden, der in der Sonne vertrocknet war.
Ob ich etwas dazu schreibe?, ging es ihr durch den Sinn. Doch dann entschied sie sich, den Stern für sich sprechen zu lassen. Nachdem sie ihn vorsichtig in dem Umschlag verstaut hatte, klebte sie den Brief zu und versah ihn zusätzlich mit einem kleinen Siegel, um sicherzugehen, dass der Brief seine kostbare Fracht nicht verlor.
Den Gang zum Postamt würde sie am heutigen Nachmittag mit einem Besuch bei Samantha im Haus ihres Vaters verbinden.
In den vergangenen Tagen hatten sie sich mehrfach zufällig in der Stadt getroffen, und Lillian kam allmählich der Verdacht, dass Samantha bei ihren Spaziergängen nach ihr Ausschau hielt.
Ein seltsames Mädchen, dachte sie. Warum ist ihr so sehr daran gelegen, dass ich hier im Ort Bekanntschaften mache? Nicht, dass sie das nicht wollte, aber es erschien ihr merkwürdig, dass jemand Wildfremdes sich derart freundlich um sie kümmerte.
Auf jeden Fall hatte sie die Einladung in Samanthas Elternhaus nicht ausschlagen könnten – und wollen.
Ein Klopfen an die Tür riss sie aus ihren Gedanken. Durch die Küchentür erkannte sie einen Jungen mit zerzaustem braunem Haar, der neugierig durch das Fenster lugte.
Als sie die Tür öffnete, sprang er fast erschrocken zurück und sah sie mit großen Augen an. »Wohnt hier ein Mr Ehrenfels?«, fragte er, wobei Lillian erkennen konnte, dass ihm auf einer Seite der Eckzahn fehlte.
»Ja, der wohnt hier«, antwortete sie, worauf ihr der Junge zwei schon etwas abgegriffene Umschläge entgegenstreckte. »Diese Briefe sind vorhin bei uns abgegeben worden. Stand ne falsche Adresse drauf, aber meine Mum meinte, dass sie hier richtig sind.«
»Das sind sie sicher«, entgegnete Lillian, während sie die etwas fahrig wirkende Handschrift auf dem Umschlag las, die offenbar von Mr Caldwell stammte. Wer sonst – außer Adele – hätte ihnen schreiben sollen? »Magst du reinkommen und was essen? Ich habe Kuchen da.«
»Nee, ich muss los!«, rief der Junge, und ehe sie daran denken konnte, ihm etwas Geld zuzustecken, rannte er schon zur Gartenpforte.
Mit klopfendem Herzen, die Briefe fest an ihre Brust gedrückt, eilte Lillian den Korridor entlang zur Studierstube.
»Großvater?«, fragte sie in den Raum hinein, der immer noch mit Kisten vollgeräumt war. »Bist du hier?«
Ob er nur über seinen Aufzeichnungen eingeschlafen war? Das passierte manchmal, doch diesmal war es nicht der Fall. Schon beim Eintreten spürte sie, dass er nicht hier war. Die Folianten auf seinem Schreibtisch waren zugeschlagen, die Schreibfeder lag auf ihrem hölzernen Etui.
»Großvater?«, rief sie erneut, erhielt aber wieder keine Antwort.
Wo war er nur? Die klappernde Hintertür gab ihr die Antwort. Rasch eilte Lillian nach draußen und fand ihren Großvater neben dem Brunnen, wo er sich etwas Wasser in einen Topf pumpte.
Als er ihre Schritte hörte, richtete er sich auf. »Was gibt es denn?«
»Wir haben Post bekommen. Oder besser gesagt, du hast Post bekommen. Von Mr Caldwell.«
Georg zog die Augenbrauen hoch, dann nahm er ihr die Briefe aus der Hand und drehte sie herum, als würde sich bereits auf dem Umschlag ein Hinweis auf den Inhalt befinden.
»Du hättest sie schon öffnen können«, sagte er, während er den ersten Brief vorsichtig aufriss.
»Ich wollte dir doch nicht die Freude verderben«, entgegnete Lillian, während sie gespannt den Hals reckte.
Aus dem ersten Umschlag förderte Georg eine eng beschriebene Seite Briefpapier sowie ein paar Landkarten zutage.
»Ich glaube, wir sollten besser reingehen«, sagte er dann, als hätte er einen missgünstigen Blick aus der Nachbarschaft gespürt.
Als Lillian zur Seite blickte, sah sie am
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