Der Rote Mond Von Kaikoura
war die Schneiderin aufgetaucht und hielt ihr ein rosafarbenes Kleid aus Spitze und Seide entgegen.
Etwas widerwillig schlüpfte Lillian hinein und ließ es über sich ergehen, dass die Schneiderin die Haken am Rücken schloss.
Ein Blick in den Spiegel sagte ihr aber gleich: Das bin nicht ich. Mit diesem Kleid würde ich im Busch keinen Meter weit kommen, ohne mir sämtlichen Zierrat abzureißen, dachte sie. Und erst recht könnte ich damit nicht auf die Spitze eines Observatoriums steigen, weil ich mir mit den freien Schultern wahrscheinlich eine Erkältung einfangen würde.
Trotz dieser Gedanken nickte sie brav zu den Lobeshymnen und versuchte, Samantha, der das alles offenbar großen Spaß machte, nicht allzu finster anzusehen.
Als die Anprobe endlich vorüber war, atmete Lillian erleichtert auf. Soweit sie es mitbekommen hatte, waren zwei Stunden vergangen, und es wäre nur höflich, sich nun zu verabschieden und wieder nach Hause zu gehen.
»Das alles gefällt dir nicht sonderlich, oder?«, fragte Samantha ein wenig enttäuscht, nachdem Lillian wieder in ihr altes Kleid geschlüpft war. »Tragt ihr in Deutschland solche Kleider nicht?«
»Natürlich tun wir das, aber ich bin auch zu Hause eher selten zu irgendwelchen großen Festen gegangen.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Ungläubig zog Samantha die Augenbrauen in die Höhe. »Du hast doch wohl nicht die ganze Zeit über zu Hause über irgendwelchen langweiligen Stickereien gehockt?«
»Nein, das nicht, ich …« Lillian stockte. Samantha hätte vermutlich kein Verständnis dafür, dass sie eher Physikbücher gelesen und Sternkarten studiert hatte. »Ich war mit meinem Großvater sehr viel unterwegs, wir sind mehrmals im Jahr verreist«, sagte sie also, was nicht einmal geschwindelt war, denn ihr Großvater war ständig auf der Suche nach Gleichgesinnten gewesen, mit denen er sich über die Sterne austauschen konnte.
»Wohin seid ihr denn gereist?«, erkundigte sich Samantha sogleich neugierig.
»Wir waren in Spanien, Frankreich, England und Schottland. Und überall in Deutschland.«
»So, meine Lieben, ich wäre dann so weit, um Ihre Bestellungen aufzunehmen«, flötete Mrs Billings in den Raum hinein, während Samantha eine bewundernde Miene aufsetzte.
Eine Hitzewelle überlief Lillian. Es war furchtbar unhöflich, nach solch einer Anprobe nichts zu bestellen. Diesen Gedanken schien Samantha ihr anzusehen, denn sie griff rasch nach ihrer Hand.
»Keine Sorge, ich bestelle gleich drei Stück bei ihr. Da unsere Maße annähernd gleich sind, wird es ihr nicht auffallen.«
Lillian lief rot an, während sie erleichtert durchatmete. »Vielen Dank, das ist sehr freundlich von dir.«
»Ach was«, winkte Samantha ab. »Das ist pure Selbstsucht. Mein Vater wird toben, wenn er merkt, dass ich gleich drei neue Kleider haben will. Aber am Ende kauft er sie mir doch, denn ich bin ja sein einziges Kind!«
»Trotzdem, danke.« Sie ist offenbar ein wirklich netter Mensch, dachte Lillian erleichtert.
»Wenn du magst, kannst du mir ja beim nächsten Mal von euren Reisen erzählen. Ich würde so gern mal eine Reise nach Europa machen! Vielleicht finde ich ja beim Ball einen Mann, der reich genug ist, mit mir eine Hochzeitsreise durch all die Länder zu machen, die du schon bereist hast.«
Lillian nickte und ließ sich dann von Samantha zurück zu den mit Taft und Spitze behängten Figurinen ziehen.
Der Gedanke, eine Wanderung durch den Busch und ins Maori-Land zu unternehmen, beschäftigte Lillian den ganzen Abend. Wenn ihr Großvater ihre Schweigsamkeit bemerkte, schien er dies zu übersehen, jedenfalls fragte er nicht nach. Wahrscheinlich wälzte er seine eigenen Gedanken. Wenn Lillian in kurzen Gedankenpausen zu ihm hinübersah, bemerkte sie, dass sein Blick wie traumverloren wirkte.
Etwas früher als sonst wünschten sie sich eine gute Nacht und kehrten in ihre Zimmer zurück. Strahlendes Mondlicht fiel durch Lillians Fenster und malte verzerrte Vierecke auf ihr Bett.
Nachdem sie sich ausgezogen hatte, griff Lillian zu den Reiseberichten, die sie zusammengetragen hatte, und begann mit dem Lesen. Allerdings kam sie nicht weit. Ihre innere Unruhe verhinderte, dass sie sich richtig konzentrieren konnte.
Während sie schlaflos an ihre Zimmerdecke blickte, malte sie sich erneut aus, wie es unterwegs sein würde, wie die Menschen aussehen würden und welche Pflanzen und Tiere es wohl zu sehen gäbe.
Großvater muss Mr Caldwell davon überzeugen, dass ich
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