Der Rote Mond Von Kaikoura
sie aufpassen, nicht die Luft anzuhalten. Das Geschäftshaus wirkte nicht nur von außen imposant, auch in seinen Räumen war allerhand zu sehen. In der ersten Etage hing ein riesiger Spiegel, in dem die Damen ihre gekauften Hüte, Schals und Tücher begutachten konnten. Lillian konnte leider nur einen kurzen Blick in den Verkaufsraum werfen; dann wurde sie von Samantha schon weitergezogen.
Im Salon, der eingerichtet war wie in einem englischen Herrenhaus, hatte sich die Schneiderin breitgemacht. Ein Dutzend Figurinen verdeckten die Sicht auf die weißen Jugendstilkommoden und Korbsessel. Auf dem Glastisch, neben einer Vase mit rosafarbenen Seidenrosen, lagen zahlreiche Rollen mit Garnen, Spitzen und Litzen.
Die Figurinen selbst waren in verschiedenfarbige Gewänder gekleidet. Offenbar liebten Samantha und ihre Mutter zarte Pastelltöne, denn kein Kleid war dunkler als hellblau. Lillian fühlte sich regelrecht erschlagen von all den zarten Rosa-, Lindgrün-, Blau- und Gelbtönen, wenngleich sie zugeben musste, dass einige Kleider wirklich sehr schön waren. Adele hätten sie jedenfalls gefallen, ging es ihr durch den Sinn.
»Ah, Miss Samantha, da sind Sie ja!«, rief eine Frau in einem dunkelroten Samtkostüm, die am linken Handgelenk ein gut gespicktes Nadelkissen trug. Wahrscheinlich war das die Schneiderin.
»Ihre Mutter hat mir aufgetragen, mit Ihnen zu beginnen. Wer ist Ihre Freundin hier?« Mit geübtem Blick und schnellen Bewegungen maß die Schneiderin Lillians Taille, Brust und Hüften.
»Das ist Lillian Ehrenfels. Sie ist neu in der Stadt; ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, sie ein wenig in unsere Gesellschaft einzuführen.«
»Oh wie schön!«, rief die Schneiderin aus, und es war offensichtlich, dass sie eine neue Kundin witterte. »Ich bin Molly Billings. Sie gehen doch sicher auch zu dem großen Fest, oder?«
»Ich bin mir noch nicht sicher …«, begann Lillian, worauf Samantha sie gegen den Arm knuffte.
»Selbstverständlich wird sie gehen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, würde sie auch gern ein paar Kleider anprobieren.«
»Ich …« Doch Lillian wusste, dass ihr Protest vergebens war.
»Natürlich habe ich nichts dagegen. Eine Anprobe ist doch mit einer Freundin gleich noch mal so vergnüglich! Und Miss Lillian ist glücklicherweise schlank genug für die Modelle, die ich dabei habe.«
Dessen war sich Lillian nicht sicher, doch sie fügte sich und war froh, dass sie ihre beste Wäsche trug.
»Am besten fangen wir bei Miss Samantha mit dem gelben Kleid an und bei Miss Lillian mit dem hellblauen«, flötete die Schneiderin und huschte zu den ersten Figurinen.
Lillian blickte peinlich berührt zu Samantha, die ihr aufmunternd zuzwinkerte.
»Keine Sorge, es wird schon nicht wehtun. Du probierst die Kleider an, und anschließend krümeln wir den Stoff mit Gebäck voll.«
So freudig, wie Samanthas Augen leuchteten, wollte Lillian ihr nicht den Spaß verderben, obwohl sie sich selbst weit weg wünschte. Lieber wäre sie an der Küste bei den Krabbenbooten herumgelaufen, anstatt hier zu sein. Doch ehe sie es sich’s versah, war sie gefangen in Tüll und Satin.
Das erste Kleid sah zwar sehr schön aus, stellte sich aber als unbequem heraus. Obwohl die Schneiderin der Meinung war, dass es ihr passen würde, hatte sie das Gefühl, darin zu ersticken. Schon in Köln hatte sie die steifen Kleider gehasst, die sie zu offiziellen Anlässen hatte tragen müssen. Diese hier waren noch um einiges steifer und unbequemer, sodass sie jetzt schon wünschte, der Nachmittag möge bald vorübergehen.
Doch sogleich wurde das nächste Kleid gebracht, und sie hatte nicht einmal Zeit, den Moment zu genießen, in dem sie das enge Teil los war.
Um sich von der enervierenden Schwärmerei der Schneiderin abzulenken, ließ sie ihre Gedanken zu dem Brief von Mr Caldwell schweifen. Eine Exkursion durch Maori-Land hörte sich sehr spannend an. Schon auf dem Weg hierher war sie von der Landschaft fasziniert gewesen. Was würde man erst zu sehen bekommen, wenn man in den Busch vordrang?
Und wenn ich ihn bitten würde, mich mitzunehmen?, schoss es ihr durch den Kopf. Die Einladung hatte zwar nur ihrem Großvater gegolten, aber sie war doch so etwas wie seine Assistentin. Vielleicht konnte ihr Großvater seinen Freund davon überzeugen, dass es sinnvoll war, sie mitzunehmen …
»Nehmen Sie bitte die Arme hoch, damit ich Ihnen das Kleid überstreifen kann.«
Lillian schreckte aus ihren Gedanken auf. Neben ihr
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