Der Rote Mond Von Kaikoura
Sie sich aus, was Sie möchten, heute sind Sie mein Gast.«
Beim Abendessen saßen Lillian und ihr Großvater sich schweigend gegenüber, jeder in Gedanken vertieft. Das ging eine ganze Zeit so, bis Lillian schließlich fragte: »Wie war dein Ausflug durch die Stadt?«
Georg schreckte hoch. »Gut. Er war gut.«
»Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
»Oh ja«, platzte es mit leuchtenden Augen aus ihm heraus, bevor er sich wieder fing. »Ich meine, ich habe einige ganz reizende Läden entdeckt. Allerdings scheint man sich hier für Astronomie nicht sonderlich zu interessieren.«
»Was eigentlich nicht anders zu erwarten war«, gab Lillian lächelnd zurück. Doch das Lächeln verging ihr, als ihr Großvater fragte: »Und deine Teestunde? Hast du dich gut amüsiert? Oder musstest du wieder einen Haufen Kleider anprobieren?«
»Nein, das nicht, es …« Sollte sie ihrem Großvater endlich von Ravenfield berichten? »Es war recht nett, ich habe Samanthas Eltern kennengelernt.«
Noch während sie sprach, tauchte vor ihrem geistigen Auge wieder das Gesicht von Jason Ravenfield auf. Was wäre schon dabei, wenn ich von dem Schafzüchter erzähle …
»Und wie sind die Eltern deiner Freundin so?«, fragte Georg ein wenig abwesend.
»Sie sind sehr nett, ganz anders als die von Adele«, entgegnete Lillian rasch. »Mr Carson hat dich dafür bewundert, dass du mich ganz allein großgezogen hast. Er sagte, dass er dich gern einmal kennenlernen würde.«
»Nun, wenn das so ist, habe ich nichts dagegen«, antwortete Georg, und irgendwie schien er allmählich wieder zu sich selbst zurückzufinden. »Vielleicht werde ich ja auch mal zu einer Teestunde bei ihnen eingeladen.«
»Oder wir treffen sie in der Stadt, bei einem Spaziergang!«
»Möglicherweise.«
Die beiden sahen sich an, und obwohl sie jetzt wieder wacher wirkten, schlich sich das Schweigen erneut zwischen sie. Lillian senkte den Kopf und hörte wenig später ihren Großvater mit der Gabel auf dem Teller klappern. Offenbar gab es doch Dinge, über die sie nicht miteinander reden konnten …
Liebste Adele,
auch wenn ich nicht weiß, ob meine Briefe Dich überhaupt erreichen, so schreibe ich Dir heute in höchster Verwirrung. Es wird Dir vielleicht absonderlich erscheinen, doch es geht um einen Mann. Ja, Du liest richtig, die spröde Lillian, deren ganze Liebe den Büchern und der Wissenschaft gilt, steht vor dem Problem, einem Mann begegnet zu sein, der ihr Herz auf seltsame Weise verwirrt.
Ach, könnte ich Dir doch nur von Angesicht zu Angesicht erzählen, was gerade in mir vorgeht. Jason Ravenfield ist Schafzüchter und besitzt eine Farm in der Nähe. Aber nicht das ist es, was ihn für mich interessant macht, es ist sein Aussehen und seine Art. Noch nie habe ich einen Mann getroffen, dessen Augen gleichermaßen vor Schalk und Klugheit blitzen. Er macht sich einen Spaß daraus, andere auf den Arm zu nehmen, aber andererseits kann er auch ernsthaft und selbstsicher sein.
Du würdest jetzt wahrscheinlich in die Hände klatschen und Dich darüber freuen, dass ich ihn getroffen habe. Aber das wäre verfrüht. Ich hatte die ganze Zeit über nur damit zu tun, zu erröten und mich wie ein kleines Mädchen zu fühlen. Was würde wohl so ein praktischer und patenter Mann dazu sagen, dass wir eine Sternwarte errichten wollen, die weder Profit bringt noch eine Ware herstellt, sondern den Menschen nur die Schönheit und den Lauf der Sterne zeigen soll?
Ach, liebste Adele, könntest Du doch hier sein! Du würdest mir gewiss meine Angst nehmen und mir raten, ihn mit der Wahrheit auf die Probe zu stellen. Vielleicht ist das das einzig Richtige, aber ohne Zuspruch von Dir wage ich es nicht. Also, schreib mir bitte, so schnell Du kannst!
In Liebe,
Lillian
10
Am Tag der Exkursion erhob sich Lillian bereits in aller Frühe. Mr Caldwell wollte sich gegen sechs Uhr einfinden; nun war es gerade erst vier und das Tageslicht noch nicht mehr als eine ferne Ahnung am Horizont. Obwohl ihre Glieder noch immer etwas bettschwer waren, ging sie zu der Waschschüssel und goss sich etwas Wasser ein. Das kalte Nass vertrieb die letzten Reste der Müdigkeit und machte Platz für Tatendrang und Neugier. Was würde sie dort draußen alles sehen? Neben den Sternen interessierte sie sich auch für die Botanik und die Tierwelt. Ihr Großvater meinte immer, dass die Wissenschaften einander ergänzen müssten.
»Wenn es eine Sonnenfinsternis gibt, verstummen ringsum die Vögel; wenn du
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