Der Rote Mond Von Kaikoura
so schlimm?«
»Wie man es nimmt, meine Liebe!«, entgegnete Mr Caldwell an Henares Stelle. »Für einen Maori, der weiß, worum es geht, sicher nicht, aber für einen uneingeweihten Weißen könnte es schon Furcht einflößend sein.«
Fragend blickte Lillian zu ihrem Großvater, der in Gedanken versunken war und offenbar nicht vorhatte, sich an dem Gespräch zu beteiligen.
»Was soll daran denn so erschreckend sein?«
Caldwell und Henare sahen sich an, dann überließ der Physiker seinem Assistenten wieder das Wort.
»Wenn ein Fremder ins marae , also in ein Dorf kommt, wollen die Maori natürlich herausfinden, ob er Freund oder Feind ist. Um seinen Mut und seine Ehrlichkeit zu prüfen, werfen sie dem Neuankömmling einen Stock vor die Füße und bedeuten ihm, ihn aufzuheben. Dann vollführen die Männer einen haka , einen Kriegstanz, während dem der Besucher den Kriegern unerschrocken in die Augen blicken muss. Wenn ihm das nicht gelingt, hält man ihn für unehrlich, und dann ist sein Leben wirklich in Gefahr.«
Als das Dorf vor ihnen auftauchte, riss Lillian erstaunt die Augen auf. Es war, als wäre eine Zeichnung in den Büchern ihres Großvaters lebendig geworden. Schilfgedeckte Hütten umstanden ein großes hölzernes Gebäude, das rot angestrichen und mit unzähligen Schnitzereien bedeckt war. Dazwischen herrschte rege Betriebsamkeit. Frauen mit Körben auf dem Kopf oder unter den Armen strebten ihren Behausungen zu, während ein paar Männer, die sich neben einer Holzfigur mit dem Schnitzer unterhielten, sogleich zu ihnen aufblickten.
»Sie und Ihre Enkeltochter sollten erst einmal hier warten«, sagte Henare zu Georg. »Mr Caldwell war schon einmal hier, an ihn wird sich der Häuptling erinnern. Und an mich auch.«
Kurz blickte er zu Lillian, dann wandte er sich seinem Arbeitgeber zu. Die beiden Männer gingen mit ruhigen Schritten auf das Empfangskomitee zu.
Nur zu gern hätte Lillian gehört, was sie sprachen. Ihr Herz pochte vor lauter Aufregung, und sie wusste gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte – auf die Männer, die jetzt wieder miteinander sprachen, auf die Frauen, die hinter ihnen warteten und sie neugierig betrachteten, oder auf die Hütten, die mit prachtvollen Schnitzereien verziert waren, gegen die ihre kleine Flöte wie die Fingerübungen eines Kindes wirkte.
Auf einmal spürte sie die Hand ihres Großvaters auf ihrem Arm.
»Bleib ruhig, mein Kind«, flüsterte er. »Wie es aussieht, wollen sie uns nicht in den Kochtopf stecken.«
»Großvater!«, entgegnete Lillian entsetzt.
»Nur ein kleiner Scherz. Die Maori essen keine Menschen. Und wie es aussieht, werden sie uns auch nicht vertreiben. Jedenfalls, wenn ich die wenigen Gesprächsfetzen, die herüberdringen, richtig verstehe.«
Tatsächlich konnte man etwas von dem Gespräch hören, aber Lillian verstand rein gar nichts.
»Weißt du denn, worüber sie reden?«
»Darüber, ob wir den Häuptling sprechen dürfen. Wenn ich es richtig einschätze, ist er noch nicht unter den Leuten da vorn.«
»Sind das seine Leibwächter?«
»So etwas braucht ein großer Häuptling nicht. Er ist hier derjenige, der das meiste mana – Ansehen – besitzt. Meist ist er auch der beste Krieger des Stammes, warum sollten ihn die anderen also schützen?«
»Und warum wirken die Krieger da vorn dann so aufgeregt?«
»Du hast unseren lieben Mr Arana gehört; wahrscheinlich wollen sie prüfen, ob wir mutig sind und in guter Absicht kommen.« Georg verstummte und blickte fast schon angestrengt nach vorn.
»Das gibt es doch nicht!«, murmelte er dann, und als Lillian wieder nach vorn blickte, sah sie einen alten Mann mit zahlreichen Halsketten, der auf einen Stock gestützt zu den anderen trat. Augenblicklich verstummten die jungen, aufgeregten Krieger.
»Wer ist dieser Mann?«
»Man könnte ihn den Schamanen dieses Ortes nennen. Jeder Stamm hat so einen Heiler oder eine Heilerin. Er ist nach dem Häuptling der wichtigste Mann, und im Gegensatz zum ariki hat er das Amt so lange inne, bis er es an einen Nachfolger abgibt oder stirbt. Er hat großen Einfluss, auch auf den Häuptling; wenn er die Krieger zu einem Feldzug aufruft, folgen sie ihm bedingungslos …«
Während er sprach, schien er in alte Erinnerungen abzugleiten, die Lillian nur zu gern gekannt hätte. Dann verstummte er jedoch, und nur wenig später kehrte Caldwell zu ihnen zurück, während Henare bei den Maori stehen blieb.
Lillian versuchte, einen Blick auf sein Gesicht
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