Der Rote Mond Von Kaikoura
Vogels vernahm. Zunächst glaubte sie, es wäre ein Raubtier, doch dann sah sie, wie leuchtend bunte Federn durch das Geäst des Baumes über ihr flatterten und schließlich inmitten des Grüns verschwanden.
»Guten Morgen«, grüßte eine leise Männerstimme. »Haben Sie gut geschlafen?«
Lillian rieb sich über das Gesicht. »Besser, als ich es erwartet hätte. Warum sind Sie schon wach?«
»Weil es hell ist«, entgegnete er lächelnd. »Ich bin es gewohnt, so früh aufzustehen. Noch bevor die Sonne richtig aufgegangen ist.« Er warf ein paar Zweige in die Feuerstelle, die er wieder entfacht hatte. »Wenn Sie möchten, können Sie sich hinter dem Vorhang dort waschen.«
Lillian blickte zu der Leine, die zwischen zwei Bäume gespannt war und über der eine raue Decke hing. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Haben Sie die eigens für mich aufgehängt?«
»Eine Lady sollte sich nicht vor den Augen wildfremder Männer waschen müssen«, erklärte Henare mit ernsthafter Miene. »Wo kämen wir da hin?«
»Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Henare nickte ihr zu, dann richtete er seinen Blick wieder aufs Feuer.
Obwohl Lillian sicher war, dass der Maori sie nicht hinter dem Vorhang überraschen würde, begnügte sie sich mit einer Katzenwäsche und richtete dann, so gut es ging, ihr Haar.
Ob er das Wasser aus dem Bach genommen hat?, fragte sie sich, während sie ihr Spiegelbild in der kleinen Schüssel betrachtete. Es wirkte recht klar, kaum zu glauben, dass es aus dem sandigen Bett des Baches stammen sollte.
Als sie hinter dem Vorhang hervortrat, stieg ihr der Duft von Kaffee in die Nase. Über der Feuerstelle baumelte an einem provisorischen Gerüst ein kleiner Topf, dessen Deckel leise zu klappern begann.
»Wenn Sie möchten, können Sie mich gern zum Wasserholen begleiten«, erklärte Henare, während er einen Falteimer aus Tierhaut hochhob. »Für den Kaffee hat es gerade noch so gereicht, doch ich bin sicher, dass sich Mr Caldwell und Ihr Großvater ebenfalls waschen möchten.«
Lillian zögerte zunächst, schalt sich dann aber für den Gedanken, dass Mr Arana sich ungebührlich verhalten könnte, wenn sie allein waren. Dergleichen traute sie ihm einfach nicht zu. Und zwischen den zwei schnarchenden Männern, die offenbar nichts um sich herum mitbekamen, wollte sie ebenfalls nicht warten.
»Sehr gern!«, antwortete sie also und schloss sich Henare an. Zunächst verließen sie schweigend das Lager, doch Lillian hatte nicht vor, die Gelegenheit, allein mit dem Maori zu sprechen, ungenutzt verstreichen zu lassen.
»Auf dem Weg nach Kaikoura hat mir der Kutscher, der Maori war, etwas geschenkt. Lillian zog die kleine Flöte aus ihrer Rocktasche. »Hat dieses Instrument irgendeine Bedeutung für Ihr Volk? Verwenden Sie solche Flöten vielleicht bei irgendwelchen Ritualen?« Den Zusatz, dass der Kutscher sie tohunga genannt hatte, versagte sich Lillian.
Henares Miene erstarrte ein wenig, als er die Schnitzereien betrachtete.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, hakte Lillian nach, als Henare auch nach einigen Augenblicken nichts sagte, sondern nur die Flöte in den Händen hin und her drehte.
»Das ist eine sehr schöne Arbeit«, antwortete er und reichte ihr die Flöte wieder zurück. »Aber es hat nichts mit einem Ritual zu tun. Natürlich haben die Maori eine ganze Anzahl an Ritualen, aber diese werden meist an einem heiligen Ort vorgenommen. Außerhalb dieser Plätze singt man karakia, um böse Geister zu bannen, oder bittet die Götter um Hilfe und Kraft.«
»Und aus welchem Grund hat mir der Kutscher gerade eine Flöte geschnitzt? Es hätte genauso gut eine Figur sein können.«
»Vielleicht sind Sie ihm besonders musikalisch erschienen.«
Lillian winkte ab. »Nein, das bin ich weiß Gott nicht.« Ein wenig enttäuscht blickte sie auf das Instrument. Wahrscheinlich dachte sie sich viel mehr dabei, als wirklich dahintersteckte.
»Sie sollten üben«, ermunterte Henare sie. »Die Götter der Maori lieben Musik. Ein Lied auf dieser Flöte könnte ihnen gefallen.«
»Dann werde ich Ihre Götter wohl enttäuschen müssen«, gab Lillian zurück und ließ die Flöte wieder in ihre Tasche wandern. »Ich bin eher Forscherin als Musikerin. Aber vielleicht, eines Tages …« Sie stockte. Eigentlich hatte sie hinzusetzen wollen, dass eines ihrer Kinder dieses Instrument vielleicht einmal spielen würde, doch den Gedanken schob sie rasch wieder beiseite.
»Was denn?«, hakte Henare nach,
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