Der Rote Mond Von Kaikoura
zu erhaschen, doch er stand so, dass sie nur sein Profil sehen konnte, und das wirkte unbewegt.
»Der Heiler will mit dem Häuptling sprechen«, verkündete Caldwell. »Wenn alles gut geht, findet die Besprechung noch heute statt.«
Der alte Mann löste sich von den Kriegern und ging an ihnen vorbei.
Lillian entging nicht, dass der Heiler ihren Großvater seltsam, ja beinahe ungläubig ansah. So als würde er einen alten Bekannten wiedersehen. Auch ihr Großvater wirkte nicht so, als hätte er einen Fremden vor sich. Beide Männer nickten sich schließlich leicht, beinahe unmerklich zu; dann waren sie auch schon an ihm vorüber.
»Kennst du ihn?«, fragte Lillian, als sie ein Stück entfernt waren.
»Warum fragst du das?«
»Ihr beide habt ausgesehen, als würdet ihr euch wiedererkennen. Und was sollte das Nicken?«
»Ich habe ihn gegrüßt, das ist alles.«
Aber Lillian wusste genau, dass sie sich nichts einbildete. »Hat es vielleicht etwas mit deiner ersten Reise hierher zu tun? Einige Leute von damals könnten doch vielleicht noch leben.«
»Lillian, bitte!«, sagte ihr Großvater in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete und Lillian ein wenig erschreckte. Nur selten, wenn sie sich wirklich grobe Verfehlungen erlaubte, verwendete er diesen Tonfall. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, zu welchem Anlass es das letzte Mal geschehen war.
»Entschuldige«, murmelte sie, doch auch wenn sie nichts mehr sagte, wollte ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf gehen.
Glücklicherweise dauerte das Gespräch zwischen Henare und dem Alten nicht mehr besonders lange. Während der Schamane zu einer der Hütten schlurfte und dabei die Schaulustigen fortscheuchte wie ein paar lästige Hühner, kehrte Henare zu ihnen zurück.
»Wir werden gleich erfahren, ob wir willkommen sind oder nicht«, erklärte er mit angespannter Miene. Hatte der tohunga ihm noch etwas gesagt, das Caldwell nicht mitbekommen hatte? »In der Zwischenzeit dürfen wir uns in der Gästehalle aufhalten. Kommen Sie, ich führe Sie hin.«
Während sie Henare folgten, glaubte Lillian, die Blicke jedes einzelnen Dorfbewohners zu spüren. Obwohl der Schamane die Versammlung aufgelöst hatte, sahen die Maori, die sich noch immer im Freien befanden, neugierig zu ihnen herüber.
Als sie zu ihrem Großvater blickte, bemerkte sie, dass ihm das Ganze nicht im Geringsten unangenehm war. Er lächelte den Leuten zu und nickte ein paar Mal grüßend, während er unbefangen dem Gästehaus entgegenschritt.
Auch dieses war mit prachtvollen Schnitzereien verziert, allerdings hatte man hier verschiedene Grün-und Goldtöne zum Bemalen verwendet.
Das Innere des Raumes war ebenfalls prachtvoll verziert, doch Möbel suchten sie hier vergebens. Nur ein paar Schilfmatten lagen auf dem Boden. Lillian vermutete, dass sie als eine Art Teppich dienten.
»Wie lange werden wir warten müssen?«, fragte sie, nachdem sie sich umgesehen und ihre Tasche abgestellt hatte. Dass sie den Großteil ihres Gepäcks auf den Pferden gelassen hatten, konnte nur bedeuten, dass noch nicht sicher war, ob sie mit dem ariki sprechen durften.
»Es kann recht schnell gehen, je nachdem, was der Häuptling gerade zu tun hat«, entgegnete Henare. »Vielleicht sollte ich mich in der Nähe des Versammlungshauses aufhalten, dann kann ich Sie gleich holen, wenn der tohunga zurückkehrt.«
»Machen Sie das, mein Junge«, sagte Caldwell jovial. »Immerhin haben Sie Ihre Leute schon lange nicht mehr gesehen.«
Henare nickte, doch es war, als hätte sich etwas an ihm plötzlich verändert. Gefiel es ihm nicht, dass ihn sein Arbeitgeber an seine Herkunft erinnerte? Bevor Lillian auch nur einen Anhaltspunkt für die plötzliche Verfinsterung seiner Miene finden konnte, wandte er sich um und verließ das Gästehaus.
Während sie so tat, als interessierte sie sich für die Natur, stellte sich Lillian an eines der Fenster und sah ihm nach. Seltsamerweise schien er nicht gewillt, mit irgendwem aus dem Dorf zu reden. Die Leute sahen ihm nach, einige neigten sich einander entgegen, als wollten sie etwas tuscheln, doch Henare schien das alles nicht zu bemerken.
Als er hinter einer der Hütten verschwunden war, zog sich auch Lillian wieder zurück.
Nach etwa einer halben Stunde kam Henare wieder zu ihnen. Mit forschem Schritt erklomm er die Stufen und schreckte damit Georg aus seiner Versunkenheit, die ihn überkommen hatte, als er sein Notizbuch aus der Tasche gezogen hatte.
»Der ariki lädt uns in sein
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