Der Rote Mond Von Kaikoura
hielt im Moment allerdings nicht viel von Scherzen.
»Und wie sollen wir das Baumaterial da hochbringen?«, ereiferte er sich, bevor er die Augen schloss und sich sichtlich zur Ruhe zwang.
»Das war doch kein ernst gemeinter Vorschlag«, beruhigte Georg ihn. »Ich bin mir dessen bewusst, dass es unsere Möglichkeiten übersteigt, das Baumaterial hinaufzuschaffen. Ganz zu schweigen davon, dass es dort oben nicht besonders heimelig sein dürfte.«
»Bitte verzeihen Sie«, sagte Caldwell daraufhin, während er immer noch die Augen geschlossen hielt. »Ich hätte nur gedacht, dass die Sache unkomplizierter laufen würde.«
»Nun ja, was läuft im Leben schon ohne Komplikationen?« Georg blickte zu Henare, dessen Miene seine Meinung zu dem Thema nicht verriet. »Wir sollten uns an dem Abendessen erfreuen, das sie uns zu Ehren geben wollen. Manchmal lassen sich Probleme auch bei einem guten Essen lösen.«
»Sie haben euch zum Abendessen eingeladen?«, fragte Lillian, während sie sich selbst schon allein im Gästehaus sitzen sah.
»Uns alle«, entgegnete ihr Großvater. »Es ist Brauch, Gäste zu bewirten, nicht wahr, Mr Arana?«
Henare zuckte ein wenig zusammen, als sei er in Gedanken gewesen. »Ja, natürlich. Jedes Volk würde das tun, oder nicht?«
Mochten die Verhandlungen auch nicht den gewünschten schnellen Abschluss gefunden haben, so schienen die Dorfbewohner in anderen Bereichen sehr unkompliziert zu sein. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, fanden sich alle lebenden Seelen des Dorfes im Haupthaus zusammen und stimmten Gesänge an. Endlich bekam Lillian auch Gelegenheit, das prächtige Gebäude von innen zu sehen. Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Grimmige Gesichter, in die die gleichen Muster eingeritzt waren, die auch viele der Männer trugen, blickten auf sie herab. Die Säulen wurden von Blüten- und Blattornamenten geschmückt; dazwischen entdeckte Lillian kleine Gesichter, Vögel und Tiere, die Fabeln entstammen mussten.
Offenbar hatte sich in dem Haus beinahe das ganze Dorf versammelt. Auf weichen Matten saßen Männer, Frauen und Kinder zusammen, allerdings schien es auch hier eine gewisse Ordnung zu geben. »Die Menschen in der Mitte sind jene mit dem höchsten Ansehen, die an den Rändern haben das geringste mana«, erklärte Henare, als hätte er wieder einmal ihre Gedanken erraten. »Als Gäste werden wir wahrscheinlich in die Mitte geführt.«
Lillian blickte zu den über und über tätowierten Männern und den Frauen, die ebenfalls am Kinn ein kleines moko trugen. Sie waren in bunte, aber einfach geschnittene Gewänder gehüllt, die Haare der Frauen flossen alle lang und oftmals gelockt über ihre Schultern.
Lillian bedauerte, dass die Ausrüstungen von Fotografen zu schwer waren, um sie einfach bei sich zu tragen. Das Bild, das die Maori in ihrer prachtvollen Versammlungshalle abgaben, hätte sie zu gern Adele mitgeschickt. So musste sie sich mit einem Bericht begnügen.
Wie Henare es angekündigt hatte, wurden sie in die Mitte des Raumes geführt, wo einige freie Matten auf sie warteten.
Lillian reckte den Hals, konnte jedoch keinen Mann entdecken, der wie ein Häuptling aussah. Natürlich würde er ganz gewiss nicht so herumlaufen wie die Indianerhäuptlinge auf Illustrationen von Wildwestgeschichten, aber gewiss hatte auch hier der Anführer gewisse Insignien, an denen man ihn erkannte.
»Ist denn der ariki bereits anwesend?«, wandte sie sich im Flüsterton an Henare.
»Nein, bisher noch nicht. Er wird aber sicher bald kommen.«
Lillian verwunderte es ein wenig, wie kühl Henares Stimme wirkte. Mochte er den Häuptling nicht?
Nach einer Weile tauchte der Heiler des Dorfes auf. Lillian schätze sein Alter auf etwa achtzig Jahre, denn sein Haar floss silbern und dünn über seine Schultern, und die Tätowierungen, die er wohl in jungen Jahren erhalten hatte, wirkten nun wie Kerben in der wettergegerbten Haut. Dennoch ging von ihm eine Macht aus, die selbst sie spüren konnte, obwohl sie mit den Bräuchen der Maori doch gar nicht vertraut war.
»Dieser Mann ist der tohunga des Ortes«, flüsterte Henare ihr voller Ehrfurcht für den alten Mann zu.
»Der tohunga?«, wunderte sie sich. »Ist das nicht eine weibliche Bezeichnung?«
Henare blickte sie verwundert an. »Sie haben das Wort schon mal gehört?«
»Ja, unser Kutscher, Sie erinnern sich an die Flöte, die ich Ihnen heute Morgen gezeigt habe, der meinte, dass ich die Augen einer tohunga hätte.
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