Der Rote Mond Von Kaikoura
vorgenommen hatte, sie »unter ihre Fittiche« zu nehmen. Etwas glühend Heißes durchzog ihre Adern, und um ihre bisherige Zurückhaltung war es geschehen.
»Ja, mein Großvater will eine Sternwarte errichten. Er ist in Deutschland ein bekannter Forscher, und ich bin mir sicher, dass diesem Ort ein wenig Fortschritt durchaus guttun würde! Kümmert ihr euch am besten wieder um euren Tratsch und eure Kleider, so schadet ihr wenigstens niemandem.«
»Aber wir haben doch nicht …«, begann Samantha, doch Lillian wirbelte herum, nachdem sie ihr einen giftigen Blick zugeworfen hatte, und stapfte mit langen Schritten davon.
Nur wenig später mischte sich in ihren Schritt das Geräusch zweier weiterer Füße.
»Lillian, so warte doch!«, tönte Samanthas Stimme hinter ihr her.
Lillian presste die Lippen zusammen und dachte gar nicht daran, langsamer zu werden. Vielleicht verhielt sie sich kindisch, doch sie hatte es satt, ständig scheele Blicke zu ernten, wenn jemand von dem Vorhaben ihres Großvaters erfuhr.
Auch wenn sie ihr gegenüber nicht unfreundlich war, so hatte Lillian den Eindruck, dass Mrs Peters sie immer noch ansah, als sei sie der Leibhaftige. Und nun würden sich Samantha und ihre Freundinnen wahrscheinlich die Mäuler über sie und ihren verschrobenen Großvater zerreißen …
»Lillian!«, rief es erneut hinter ihr. Samantha folgte ihr noch immer.
Obwohl es in Lillian immer noch brodelte, blieb sie stehen. »Was denn noch?«, fuhr sie Samantha an, deren Wangen vor Anstrengung glühten. »Brauchst du noch mehr Stoff, um einen amüsanten Nachmittag mit deinen Freundinnen zu verbringen? Habt ihr noch nicht genug, worüber ihr spotten könnt?«
Doch als sie Samanthas Miene sah, wusste Lillian, dass sie ihr Unrecht tat. Immerhin hatte nicht Samantha die Bemerkung gemacht, sondern Rosie. Schlechtes Gewissen überkam sie, als Samantha entgegnete: »Aber Lillian, wir wollen dir doch nichts Böses. Rosie hat eben ein lockeres Mundwerk, aber das heißt noch nicht, dass wir uns über dich lustig machen wollten.«
»Ach ja?«, entgegnete Lillian trotz ihrer Gewissensbisse giftig. »Aber jeder macht sich darüber lustig, wenn er davon hört. Das war zu Hause so und ist hier nicht anders. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der den Umstand, dass mein Großvater eine Sternwarte bauen will, einfach mal interessant findet. Stattdessen glauben alle, er sei verrückt!«
Samantha setzte ein sanftes Lächeln auf. »Dann triffst du eben jetzt mal jemanden, der es interessant findet.«
Wen denn?, hätte Lillian beinahe gefragt, als sich das Lächeln ihres Gegenübers verbreiterte.
»Ehrlich gesagt, ich finde es wahnsinnig interessant, was dein Großvater da vorhat«, setzte Samantha hinzu. »Jedenfalls, was ich aus den Gerüchten weiß, die in der Stadt kursieren. Seit die Holzlieferung vor der Stadt angekommen ist, reden die Leute über nichts anderes mehr und stellen wilde Spekulationen an.«
Holzlieferung?
Jetzt fiel bei Lillian der Groschen. War in der Zwischenzeit das Holz angekommen? Warum zum Teufel hatte ihnen denn niemand Bescheid gegeben?
»Ich muss weg!«, rief Lillian auf einmal und wirbelte herum.
»Aber was ist denn los?«
»Mein Großvater weiß noch nichts von der Holzlieferung!«, entgegnete Lillian, während sie sich im Lauf kurz umwandte. »Ich muss es ihm sagen.«
Samantha rief ihr noch etwas nach, das sie allerdings nicht mehr hörte. An einer Gruppe Frauen vorbei, bog sie um die nächste Ecke und lief dann, so schnell sie konnte und der Korb unter ihrem Arm es ihr erlaubte, zu ihrem Haus zurück, wo sie ihren Großvater in einen Morgenmantel gehüllt in der Küche vorfand.
»Großvater!«, rief sie, worauf dieser herumfuhr und die blecherne Kaffeedose, in der sich allerdings kein Kaffee mehr befand, zu Boden warf.
»Lillian! Du meine Güte, warum erschreckst du einen alten Mann so?«
»Die Holzlieferung ist angekommen!«, platzte Lillian heraus. »Das Holz für die Sternwarte.«
Georg betrachtete sie einen Moment lang überrascht, dann fragte er: »Und woher weißt du das?«
»Samanthas Freundinnen haben mich darauf angesprochen.« Das Streitgespräch verschwieg sie ihm und setzte nur hinzu: »Samantha sagte, dass das Holz angekommen sei. Großvater, das Holz ist da! Stell dir das mal vor!«
Während ihr das Herz bis zum Hals klopfte, beobachtete Lillian, wie ihr Großvater plötzlich aus der Küche stürzte und wie von der Tarantel gebissen in sein Zimmer
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