Der Rote Mond Von Kaikoura
Unwahrheit erzählen.«
»Das werde ich, aber …«
»Also brauchst du nichts zu befürchten, mein Kind. Wenn man etwas Besonderes tut oder ist, muss man damit rechnen, dass man von jenen, die kein besonderes Talent haben, angegriffen wird. Dass solche Leute einen verstehen, ist äußerst selten, also lächle nur, wenn du irgendwas hörst, und sag dir, dass es eigentlich Bewunderung ist, die sie durch ihr Geschwätz äußern.«
Lillian wollte noch etwas darauf erwidern, doch sie sah ein, dass ihr Großvater recht hatte. Sie nahm sich vor, diese Haltung auch auf dem Fest an den Tag zu legen.
»Was meinst du, Großvater, soll ich überhaupt auf das Fest gehen?«, fragte sie, nachdem sie sich eine Weile schweigend angesehen hatten.
»Unbedingt!«, entgegnete Georg, während er nach ihrer Hand griff. »Aber nicht in diesem Kleid. Du solltest dir etwas Besseres besorgen, damit dich die Burschen von Kaikoura auch zum Tanz bitten.«
Auch wenn es nahelag, Samantha um Rat zu fragen, entschied sich Lillian dafür, allein in den Schneiderladen von Mrs West zu gehen. Natürlich war ihre Auslage nicht so exklusiv wie die von Samanthas Schneiderin, doch die Kleider waren erschwinglich, ohne dass man befürchten musste, sich zu blamieren.
Nachdem sie einen verträumten Blick auf das violette Kleid im Schaufenster geworfen hatte – das natürlich viel zu extravagant für sie war –, trat sie unter Glockengeläut ein.
Zu ihrer Erleichterung befand sich keine weitere Kundschaft im Laden. Mrs West selbst stand vor einer Figurine und steckte gerade ein Kleid zusammen.
»Guten Tag«, meldete sich Lillian ein wenig zaghaft, worauf die Schneiderin mit ihrer Arbeit innehielt und den Kopf hob. Kurz musterte sie Lillian, dann kam sie mit einem breiten Lächeln auf sie zu.
Etwas an Mrs West war anders als an anderen Frauen, das sah Lillian gleich. Ihre schwarze Lockenmähne ließ sich offenbar nur schwer bändigen, und ihre Hautfarbe wies einen goldenen Schimmer auf.
»Guten Tag, meine Liebe, was kann ich für Sie tun?«, sagte sie mit funkelnden goldbraunen Augen.
»Ich würde mir gern Ihre Kleider ansehen«, antwortete Lillian, noch immer ganz gefesselt von der exotischen Ausstrahlung der Schneiderin.
»Sie brauchen etwas für das Fest, nicht wahr? Bei den Carsons.«
Lillian nickte. »Das hat sich herumgesprochen, vermute ich.«
»Jede Frau unterhalb der vierzig, die zu mir kommt, braucht ein Kleid für dieses Fest. Einige bevorzugen meine Kollegin, aber ich versichere Ihnen, dass ich wesentlich preiswerter bin und von der Qualität durchaus mithalten kann.« Daran hatte Lillian nicht den geringsten Zweifel, auch wenn sie sich fragte, warum Samantha ihre Kleider nicht hier kaufte. Nach allem, was sie sah, war diese Schneiderin genauso geschickt wie Mrs Billings. »Und ich glaube, ich habe genau das Richtige für Sie.«
Die Schneiderin verschwand hinter dem Samtvorhang, und Lillian hörte ein Rumpeln im Hinterzimmer.
Wenig später kam die Schneiderin mit einer Figurine heraus, die ein ganz wunderbares Kleid trug. Lillian machte große Augen. Das Kleid war über und über mit Spitze verziert und in einem zarten Cremeton gehalten. Der Stehkragen war mit einer kleinen Gemme verziert, der Rock hinten über eine Tournüre gerafft, wie es gerade in England Mode war.
»Wenn Sie möchten, können Sie es gern anprobieren«, sagte die Schneiderin freundlich. »Wenn sich mein Augenmaß nicht irrt, sollte es Ihnen wie angegossen passen.«
»Oh, sehr gern!«, antwortete Lillian und ließ sich von der Schneiderin in das Anprobierzimmer führen, wo Mrs West ihr beim Ankleiden behilflich war.
Das Rascheln des Stoffs und der Rosenduft, der den Raum erfüllte, entfachten ein seltsames Gefühl in Lillian. Bei der Anprobe in Samanthas Haus hatte sie das Umkleiden als belastend gefunden, doch hier war es etwas anderes. Mrs West erschien ihr wie eine gute Fee, die aus einem Aschenputtel eine Prinzessin machen wollte. Das Kleid selbst schien das reinste Zauberwerk zu sein, denn der seidige Stoff schmiegte sich glatt und leicht an ihren Körper, und auch wenn das Mieder enger saß als bei ihren eigenen Kleidern, fühlte sie sich darin nicht unwohl. Vielmehr schien das Kleid eine Seite an ihr hervorzubringen, die sich bisher immer unter Wissen und Büchern verborgen hatte.
Schwindelig von den neuen Gefühlen, stellte sich Lillian schließlich vor den Spiegel – und glaubte einen Moment lang, in das Gesicht einer Fremden zu sehen. War das
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