Der Rote Mond Von Kaikoura
wirklich sie? Selbst in Köln, selbst dann, wenn sie sich bei Adeles reichen Eltern eingefunden hatte, hatte sie nie so ein Kleid getragen. Adele war diejenige, die einen ganzen Schrank voller solcher Kleider besaß; sie selbst hatte fast nur praktische, robuste Kleider für alle Tage. Jedenfalls nichts, was mit diesem hier mithalten konnte. Und nun stand sie hier – und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Adele sie so sehen könnte. Vielleicht gab es hier am Ort einen Fotografen, der eine Aufnahme machen würde …
»Sehen Sie, ich hatte recht«, erklang hinter ihr die Stimme von Mrs West. »Das Kleid sitzt wie angegossen. Und auch wenn ich nur eine Frau bin, behaupte ich einfach mal, dass Sie darin ganz wundervoll aussehen.«
Das fand Lillian auch, während sie sich vor dem Spiegel drehte und noch immer ein wenig daran zweifelte, sich selbst zu sehen. »Ja, es ist wunderschön.«
»Und Sie werden es noch schöner finden, wenn ich Ihnen den Preis für diese Kostbarkeit nenne.«
Und tatsächlich, der Preis war wirklich mehr als annehmbar für solch ein Kleid. Lillians Herz raste, als sie daran dachte, dass die Summe, die ihr Großvater ihr mitgegeben hatte, dafür reichen würde – und vielleicht sogar noch für ein paar passende Spitzenhandschuhe.
»Ich nehme es!«, sagte sie kurz entschlossen, und zum ersten Mal fühlte sie ehrliche Vorfreude auf den Ball.
Die Schneiderin strahlte. »Ich bin sicher, dass Sie damit sämtlichen Männern der Stadt den Kopf verdrehen werden. Soll ich das Kleid liefern lassen oder möchten Sie es selbst mitnehmen?«
Als sie den Laden mit dem länglichen, mit einer hellblauen Schleife verschlossenen Karton wieder verließ, liefen ihr unglücklicherweise wieder einmal Rosie und ihre Meute über den Weg. Samantha war nicht unter ihnen, was die Sache noch schlimmer machte.
Die jungen Frauen sahen sie einen Moment lang an, als hätte sie sich nackt auf die Straße gewagt, dann rauschten sie, ohne etwas zu ihr zu sagen, an ihr vorbei. Was Lillian auch wesentlich lieber war, denn sie wollte sich die Hochstimmung, in die sie der Kauf des Kleides versetzt hatte, nicht verderben lassen.
Doch kaum hatte sie den Schneiderladen ein paar Meter hinter sich gelassen, fiel ihr ein, was die abschätzigen Blicke zu bedeuten hatten. Offenbar war es für die Töchter der feineren Gesellschaft unter ihrer Würde, bei Mrs West einzukaufen – auch wenn die Kleider durchaus mit den Werken der Maßschneiderinnen mithalten konnten.
Wahrscheinlich waren Rosie und die anderen es gewohnt, dass Mrs Billings bei ihnen mit unzähligen Figurinen hereinschneite. Doch ich gehöre nicht dazu, sagte sie sich, also steht es mir frei, mein Kleid dort zu kaufen, wo ich will.
Als sie mit ihrem Päckchen nach Hause kam, fand sie ihren Großvater in der Küche. Soeben noch in die Lektüre eines Briefes vertieft, ließ er diesen verschwinden, als Lillian eintrat.
»Großvater!« Lillian hob überrascht die Augenbrauen. »Was hast du denn da?«
»Nichts. Nur ein alter Brief, den ich mir noch mal anschauen wollte. Ich habe Kaffee gemacht, möchtest du eine Tasse?«
Lillian sah ihrem Großvater deutlich an, dass er etwas verheimlichte. Um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, erhob er sich, wandte sich dem Sideboard zu und nahm eine Tasse aus dem Regal. Diese trug er zum Herd, wo er sie mit dampfendem Kaffee füllte.
Was war nur los mit ihm?
Lillian legte ihr Päckchen auf dem Küchentisch ab.
»Wie ich sehe, bist du doch fündig geworden«, sagte ihr Großvater, als er mit der Tasse zum Tisch zurückkehrte und sie vorsichtig neben dem Karton abstellte.
»Ja, und es war leichter, als ich dachte. Ich war in dem Laden von Mrs West, und da habe ich es gesehen. Einfach so!«
»Das wird der Schneiderin, die dich so viele Kleider hat anprobieren lassen, nicht gefallen.«
»Samantha hat mehrere Kleider bei ihr bestellt, das wird nicht auffallen«, winkte Lillian ab. »Außerdem schnürt mir dieses Kleid nicht die Luft ab, und es kratzt auch nicht.«
»Ist es denn wirklich ein Ballkleid? Lass mich mal sehen!«
»Seit wann verstehst du denn etwas von Ballkleidern?«, fragte Lillian zweifelnd.
»Ich war einmal verheiratet, schon vergessen? Ich weiß durchaus etwas mit weiblicher Kleidung anzufangen. Also mach schon, zeig es mir. Es sei denn, es ist zutiefst unanständig oder besteht aus Tweed, was ich dir durchaus zutrauen würde.«
Seufzend öffnete Lillian die Schleife und hob den Deckel an. Der
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