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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Laureen
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spitzenverzierte Stoff schimmerte geheimnisvoll in der Nachmittagssonne, die durch das Küchenfenster fiel.
    »Es ist keineswegs unanständig, Großvater. Es ist nicht mal besonders auffällig, aber schön. Und kein Arbeitskleid, wie du vielleicht meinst.«
    Georg erstarrte beim Anblick des Kleides. Tränen traten plötzlich in seine Augen.
    »Großvater, was ist denn los?«, fragte Lillian verwundert. »Gefällt es dir nicht?«
    »Doch«, entgegnete Georg knapp und wandte den Blick ab. »Es erinnert mich nur so sehr an deine Großmutter.« Kurz schwieg er, dann erhob er sich. »Ich glaube, ich sollte wieder an meine Arbeit gehen. Es gibt noch so viel zu tun.«
    Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, doch das misslang ihm gründlich.
    Lillian versagt es sich, noch einmal nachzuhaken. In diese Stimmung geriet ihr Großvater manchmal, besonders dann, wenn ihn Erinnerungen an ihre Großmutter überwältigten. Hatte er vielleicht einen ihrer Briefe gelesen, als sie fort gewesen war? An dem Kleid konnte es doch nun wirklich nicht liegen!
    Noch einmal strich sie mit der Hand über den zarten Stoff und die Spitzen; dann verschloss sie den Karton wieder und trug ihn in ihr Zimmer.
    Zwei Tage später stand Lillian aufgeregt vor dem Spiegel. Obwohl sie sicher war, dass das Kleid saß und auch ihre Frisur gut gelungen war, suchte sie nach Fehlern, die den Stadtbewohnern eventuell ins Auge fallen konnten. Rosie und ihre Freundinnen würden sicher wieder versuchen, an ihr herumzumäkeln. Doch auch nach weiteren Minuten konnte sie nur sagen, dass das Kleid perfekt saß, dass keine Strähne aus der Frisur schaute und dass auch ihr Gesicht, abgesehen von den aufgeregten roten Flecken, gut aussah. Nein, besser ging es nicht.
    Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihr, dass Samanthas Kutsche bald kommen würde. Zeit, sich von ihrem Großvater zu verabschieden. Ein wenig scheute sie sich, vor ihm in dem Kleid zu erscheinen, denn sie hatte immer noch seine Reaktion vor Augen, als sie ihm das Kleid zum ersten Mal gezeigt hatte. Den ganzen Abend über hatte er sich nicht mehr blicken lassen – um am nächsten Morgen lächelnd in der Küche aufzutauchen, als wäre nichts geschehen. Was, wenn er wieder von der Melancholie überfallen wurde?
    Im Arbeitszimmer saß ihr Großvater wieder am Schreibtisch. Mit missmutiger Miene las er den Brief, den er am vergangenen Morgen erhalten hatte. Über den Inhalt hatte er ihr noch nichts verraten, aber nach seinem Brummen zu urteilen, konnte es keine gute Nachricht sein.
    Als er Lillian bemerkte, blickte er auf. Doch diesmal brach er angesichts des Kleides nicht in Tränen aus. Breit lächelnd fragte er: »Oh, ist es schon so weit?«
    Lillian nickte erleichtert. »Samantha wollte mich um sechs Uhr abholen. Und du bist wirklich sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?«
    Seit sie erfahren hatte, dass die Stadt über die geplante Sternwarte Bescheid wusste, hatte Lillian versucht, ihren Großvater zum Mitkommen zu überreden.
    »Wie sieht das denn aus, wenn ich ganz allein dort auftauche?«, hatte sie gefragt, doch ihr Großvater hatte geantwortet: »Wie eine junge Frau, die sich endlich mal vergnügen möchte. Du hast mir doch gesagt, dass es eine anständige Veranstaltung ist.«
    Lillian nickt. »Jedenfalls behauptet Samantha das. Außerdem glaube ich kaum, dass man in den engen und steifen Kleidern irgendwas Unanständiges tun könnte.«
    »Sag das nicht zu laut«, entgegnete Georg lachend. »Unanständigkeit kann sich auch unter feinen Roben verbergen. Wenn man es genau nimmt, taucht sie dort am häufigsten auf. Aber ich vertraue deiner Freundin.«
    »Du hast sie ja noch nicht mal kennengelernt.«
    »Stimmt, und da fällt mir ein, dass wir das nachholen sollten. Vielleicht kommende Woche?«
    »Ich werde sie fragen«, entgegnete Lillian. »Dann kann ich ihr vielleicht auch eines unserer Teleskope zeigen. Immerhin hatte sie gemeint, dass sie sich für Astronomie interessieren würde.«
    »Dann haben wir ja wenigstens schon einen Gast für unser Richtfest!« Georg verstummte und sah sie versonnen an. »Du bist wunderschön, mein Kind.«
    Lillian errötete. »Nimm mich nicht auf den Arm, Großvater!«
    »Das tue ich ganz und gar nicht. Du wirst deiner Großmutter immer ähnlicher. In deinem Alter war sie genauso schön wie du.«
    Das war das größte Kompliment, das ihr Großvater ihr machen konnte. Dennoch war ihr immer noch mulmig zumute, denn Lillian war sicher, dass die aufgeblasene

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