Der Rote Mond Von Kaikoura
zu bringen, den Kopf nach ihr zu drehen. Nach einer Weile war Samantha noch von anderen umringt, die sie herzlich in Empfang nahmen.
Lillian kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen. Für einen Moment konnte sie die Blicke der anderen Gäste noch ignorieren, doch schließlich bemerkte sie sie doch. Als sie zur Seite blickte, neigte eine Frau gerade den Kopf ein wenig vor, und während sie ihrem Begleiter etwas zuflüsterte, blickte sie unverwandt in Lillians Richtung.
Sie müssen nicht über dich reden, versuchte sie sich zu beruhigen. Hier sind so viele Menschen. Aber das unangenehme Gefühl, dass genau sie Thema des Gesprächs war, war stärker.
»Ah, ist das das Kleid von Mrs West?«, ertönte Rosies Stimme auf einmal in ihrem Nacken.
Lillian wandte sich um. Rosie, in ein grünes Taftkleid gekleidet, das am Ausschnitt mit weißen Rosen verziert war, lächelte sie spöttisch an. Natürlich hatte sie wie immer die Zwillinge Jenny und Josie und auch Maggie im Schlepptau.
»Wie kommst du denn darauf, dass ich es von dort habe?«, fragte Lillian scheinheilig, und kurz zuckte es ihr durch den Sinn, dass Samantha es ihnen erzählt haben könnte. Aber wahrscheinlich erinnerte sich Rosie noch gut daran, dass sie sie aus dem Schneiderladen hatten kommen sehen.
»Welchen Grund hättest du denn sonst, in ihren Laden zu gehen? Bei Mrs Billings warst du ganz sicher nicht, das würde man sehen.« Abschätzig glitt ihr Blick über den Rock. »Kleider von Mrs West sind nur etwas für Huren. Du solltest dir überlegen, ob du wirklich so herumlaufen willst.«
Lillian schoss das Blut ins Gesicht. Verärgert stellte sie fest, dass Rosie diese Reaktion mitbekam und darüber lächelte. Offenbar hatte sie genau das bezweckt.
»Kommt, meine Lieben, suchen wir uns einen anderen Ort, an dem man nicht denkt, wir seien in schlechter Gesellschaft.«
Während sie mit ihren Begleiterinnen davonscharwenzelte, kochte in Lillian der Zorn hoch. Wie konnte es diese Hexe wagen, sie eine Hure zu nennen! Am liebsten wäre sie ihr nachgelaufen und hätte dafür gesorgt, dass sie diese Beleidigung zurücknahm. Doch da waren die vier bei einer Ansammlung von weiteren jüngeren Frauen und ihren Kavalieren angekommen. Dass einige von ihnen zu ihr hinübersahen, war ganz gewiss kein Zufall. Wahrscheinlich tratschte Rosie gerade genüsslich über ihr Kleid.
Auf einmal überkam Lillian das Gefühl, dass auch andere Gäste sie anstarren würden. Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, Panik machte sich in ihrer Magengrube breit. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat, als aus dem Raum zu laufen.
Wahrscheinlich lachten Rosie und die anderen darüber, aber das war ihr egal. Sie konnte nur an das denken, was Rosie ihr an den Kopf geworfen hatte – und stellte fest, dass sie sich noch nie zuvor so hilflos gefühlt hatte.
Wo war Samantha denn bloß, wenn man sie brauchte? Lillian kämpfte mit den Tränen. Adele hätte sie niemals allein gelassen. Und in ihrer Gegenwart hätte auch niemand gewagt, sie zu beleidigen!
Als Lillian endlich eine Tür fand, durch die sie nach draußen schlüpfen konnte, war sie sicher, einen schlimmen Fehler gemacht zu haben. Sie hätte nicht auf dieses Fest gehen sollen! Sie war nun einmal nicht geschaffen für diese Welt. Keines ihrer Bücher lachte über sie, kein Stern machte spöttische Bemerkungen über das, was sie war oder trug.
Erst einige Augenblicke, nachdem sie den Tanzsaal verlassen hatte, wurde ihr klar, dass sie nicht auf der Straße stand, sondern auf dem breiten Weg, der in den Garten führte. Einige Leute, denen es drinnen zu warm war, hatten sich bereits hierherbegeben. Lillian saß in der Falle!
Doch noch einmal zurücklaufen und nach einem anderen Ausgang suchen wollte sie nicht. Mit rasendem Herzen und einem dicken Tränenkloß im Hals machte sie sich auf die Suche nach einem dunklen Plätzchen, an dem sie sich beruhigen und überlegen konnte, was sie jetzt tun sollte.
Fündig wurde sie bei einem Rosenbogen, dessen Blüten einen berauschenden Duft verströmten. Gedankenverloren strich sie über einen der dunkelroten Rosenköpfe, dann blickte sie hinauf zum Himmel, wo der Mond einen Schal aus weißen Wolken angelegt hatte.
Nie wieder werde ich zu so einem oberflächlichen Fest gehen, schwor sie sich, während der Anblick des Himmels ihren Zorn ein wenig linderte und den Kloß in ihrem Hals allmählich auflöste.
»So schnell sieht man sich also wieder.«
Als Lillian herumwirbelte, kam
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