Der Rote Mond Von Kaikoura
dass Mrs West wirklich eine Schönheit ist.«
»Das ist sie in der Tat«, entgegnete Lillian in Erinnerung an die exotisch geschnittenen Augen und die makellose goldene Haut der Schneiderin.
»West hatte von der ersten Begegnung an nur noch Augen für sie. Wenn sie ihren Schneiderladen eröffnet hätte, ohne ihn zu heiraten, wäre es auch noch was anderes, aber die beiden taten, was ihnen ihre Herzen befohlen hatten. Einen Tag nach der Hochzeit begannen die Frauen, ihren Laden zu boykottieren, und sie hielten auch ihre Töchter dazu an, nicht zu Mrs West zu gehen.«
»Das ist ja furchtbar! Wie kann sie den Laden denn dann halten?«
»Nun, die Frauen der sogenannten feineren Gesellschaft mögen vielleicht zusammenhalten, aber da gibt es immer noch jene, denen es egal ist, ob sie dazugehören oder nicht. Jene, die zugereist sind, jene, die etwas Besonderes sind oder einfach nur genug Geld haben, um es zum Fenster rauszuwerfen. Letztlich sind es so viele, dass sich Mrs West halten kann. Und ich würde Ihnen wirklich raten, bei Ihrem guten Geschmack zu bleiben.«
Als Ravenfields Blick über ihren Körper glitt, hätte sich Lillian am liebsten in einem Mauseloch verkrochen. Gleichzeitig fand sie es aber auch ungeheuer aufregend, so viel Aufmerksamkeit von einem Mann zu bekommen. In Köln hatte es ihr nichts ausgemacht, wenn alle Blicke auf Adele geruht hatten, aber hier …
»Das habe ich vor«, entgegnete sie. Konnte er nicht endlich aufhören, sie so anzuschauen, dass ihr ganz heiß wurde? »Dann haben die Leute auch weiterhin etwas, über das sie reden können. Bereits jetzt bin ich wohl ein gutes Gesprächsthema.«
Ravenfield zuckte mit den Schultern. »Sie meinen damit sicher Rosie Callahan, oder? Wenn hier jemand die Königin des Geschwätzes ist, dann sie, und das in so jungen Jahren!«
Allmählich bekam Lillian das ungute Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Und auch ihre Miene. Sie brauchte diesmal nicht zu fragen, woher er es wusste, Ravenfield lieferte ihr die Antwort prompt.
»Das Mädchen, das West sitzengelassen hatte, war die Schwester von Agnes Callahan, der Mutter von Rosie. Rosies Tante. Und die Familie muss natürlich zusammenhalten.«
»Dann werde ich in nächster Zeit wohl einen schlechten Stand bei ihr haben.«
»Sicher werden Sie das«, entgegnete Ravenfield fast schon vergnügt. »Aber wen kümmert’s? Die Callahans haben genug Dreck am Stecken, dass man ihnen eine Verleumdung hundertmal mit der Wahrheit heimzahlen könnte. Rosie hatte ihren Spaß, indem sie über das Kleid gelästert hat, aber Sie können Gift darauf nehmen, dass der Großteil der Frauen innerlich grün vor Neid wird angesichts Ihres Kleides. Und Sie werden damit sicher auch einem Großteil der anwesenden Männer den Kopf verdrehen, darauf gehe ich jede Wette ein.«
Für einen Moment sahen sie sich nur an, und Lillian war sicher, dass nicht nur hässliche rote Flecke ihr Gesicht verunzierten; wahrscheinlich würde er auch mitbekommen, wie stark ihr Herz klopfte.
»Wie wäre es, wenn wir den Leuten noch mehr zu reden geben, indem Sie sich bei mir einhaken und mich in den Tanzsaal zurückbegleiten?«
Lillian zögerte. »Und was wird Ihre Begleiterin dazu sagen?«
»Nun, vermutlich gar nichts – weil es keine Begleiterin gibt.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, platzte es aus ihr heraus, was sie augenblicklich bereute. Es geht dich nichts an, schalt sie sich selbst.
Ravenfield lachte nur kurz auf. »Ich bin ganz ernsthaft, wenigstens die meiste Zeit.«
»Aber ein Mann wie Sie kann doch nicht ohne Begleitung zu einem Ball gehen!«
»Das könnte ich von einer Frau wie Ihnen ebenfalls behaupten.«
Diesmal errötete Lillian nicht, sondern überging das versteckte Kompliment einfach. »Ich bin erst vor einigen Wochen hier angekommen. Woher sollte ich schon einen Begleiter haben?«
»Das stimmt auch wieder. Wobei …« Wieder sah er sie an, diesmal aber musterte er nicht ihren Körper, sondern sah ihr direkt in die Augen. »Eigentlich hätten die Männer schon auf Sie aufmerksam werden müssen.«
Lillian lächelte ein wenig schief, denn der Satz ließ eine entfernte Erinnerung in ihr aufsteigen. Einen ähnlichen Satz hatte Adeles Mutter gebraucht, als sie das letzte Mal bei Adele zu Besuch war. Eigentlich hätten die Männer doch schon um deine Hand anhalten müssen …
Dabei hatte sie geflissentlich übersehen, dass auch um Adeles Hand noch niemand angehalten hatte. Und wenn eine von ihnen heiratete,
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