Der Rote Mond Von Kaikoura
niemand glaubte, dass ein Maori in den Wissenschaften der Weißen etwas bewirken kann«, setzte er hinzu. »Ich sah das anders, und auch wenn ich zahlreiche Hindernisse zu überwinden hatte, habe ich es doch so weit geschafft, dass ich Assistent eines angesehenen Wissenschaftlers bin. Und wenn ich eines Tages genügend Geld habe, werde ich vielleicht auch studieren. Was ist mit Ihnen, streben Sie auch ein Studium an?«
»Wenn man mich lässt, ganz sicher. In Deutschland war es unmöglich, einen Platz zu finden, dort hält man Frauen, die studieren wollen, für Suffragetten, die eingesperrt gehören, bis sie sich wieder darauf besinnen, was für Frauen angeblich das Richtige ist.«
»Dann haben Sie vielleicht Glück, dass Sie hier sind. Am Ende werden Sie womöglich sogar eine der bekanntesten Wissenschaftlerinnen Neuseelands.«
Diese Worte ließen Lillian vor sich hinlächeln. Offenbar gab es doch noch Männer, die bereit waren, eine Frau anzuerkennen, anstatt sie hinter den Herd zu verbannen. Den nächsten Gedanken, der ihr kam, verdrängte sie allerdings gleich wieder. Nein, das wäre verrückt. Henare war ein sehr netter Mann, und seine Komplimente streichelten ihre Seele, doch sie war davon überzeugt, dass er sie so freundlich behandelte, weil sie die Enkelin von Georg Ehrenfels war – und nicht, weil er irgendein anderes Interesse an ihr hatte.
Als sie den Busch hinter sich gelassen hatten, verabschiedete sich Henare schließlich. »Also dann, Miss Ehrenfels, bis zum nächsten Freitag, wenn ich Ihnen wieder Neuigkeiten von der Baustelle bringe.«
»Ich werde Ihnen einen Kuchen backen!«, versprach Lillian und winkte ihm zu. Henare erwiderte diese Geste, dann wendete er sein Pferd und ritt davon. Lillian sah ihm noch kurz nach und ließ ihre kleine Stute weitergehen. Bis nach Kaikoura würde sie nicht lange brauchen, dann würde die gähnende Langeweile in ihrem Haus sie wieder überfallen.
In Kaikoura angekommen, fühlte sich Lillian, wie erwartet, schrecklich nutzlos. Lieber wäre sie auf der Baustelle geblieben, hätte Bretter geschleppt und Hämmer zugereicht, doch ihr Großvater hatte nichts davon hören wollen. Immerhin schien Jason Ravenfield keine Anstalten gemacht zu haben, zu ihr zu kommen. Vor der Tür fanden sich weder Blumen noch irgendein Brief.
Gut so, dachte Lillian, dann brauche ich mich wenigstens nicht mehr wie eine Idiotin aufzuführen. Ein wenig enttäuscht war sie aber doch. Ein Mann, der sich von ihren Ansichten abschrecken ließ, war nicht der Richtige, das meinte ihr Großvater auch.
Am Nachmittag beschloss Lillian, zu Samantha zu gehen. Diese würde ihr sicher Vorhaltungen machen, warum sie sich so lange nicht hatte blicken lassen. Doch das würde besser sein, als die Wände anzustarren, dieselben alten Sternkarten durchzugehen und darauf zu warten, dass endlich etwas geschah.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Als sie in die Küche eilte, erblickte sie den Postboten. Mit pochendem Herzen öffnete sie. Vielleicht war ja diesmal etwas für sie dabei …
»Guten Tag!«, grüßte sie den Mann in der Uniform der Royal Mail.
»Ah, Miss Ehrenfels«, erwiderte er. »Diesmal haben Sie Glück, es ist was für Sie dabei.« Damit streckte er Lillian einen etwas abgegriffenen Umschlag entgegen. Verwundert nahm sie ihn an sich, und als sie die Handschrift sah, in der ihre Adresse geschrieben war, presste sie freudig erschrocken die Hand auf den Mund.
»Ich hoffe, das ist nichts Schlechtes«, sagte der Briefträger, der ihre Geste mitbekommen hatte.
Lillian drehte den Brief herum und las den Absender. Sie hatte sich nicht getäuscht!
»Nein, nein, nichts Schlechtes. Vielen Dank!«
Der Postbote nickte, dann machte er kehrt und ging zur Gartenpforte. Den Blick starr auf den Umschlag gerichtet, zog sich Lillian in die Küche zurück. Zunächst war sie versucht, den Brief mit bloßen Händen aufzureißen, doch dann beherrschte sie sich und holte ein Messer aus der Küchenschublade. Mit diesem schlitzte sie den Brief vorsichtig auf, zog sein Innenleben mit zitternden Fingern heraus und las.
Meine liebe Lillian,
bitte verzeih mir, dass ich Dir erst jetzt schreibe. Deine Briefe waren wie ein warmer Sommerregen bei mir eingetroffen, und so habe ich eine Weile gebraucht, um sie alle zu lesen. Du kannst Dir vorstellen, wie erschrocken Mama war, als ich die Kiste öffnete und all Deine Briefe darin lagen. Eigentlich wollte sie mich an diesem Nachmittag mit zu den Martins mitnehmen, doch
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