Der Rote Mond Von Kaikoura
gut, ich werde dich morgen über die Baustelle führen. Aber im Gegenzug muss ich darauf bestehen, dass du danach gleich wieder nach Hause reitest. Ich werde Mr Arana bitten, dich zu begleiten.«
»Ich könnte doch ein Weilchen hier bleiben und dir helfen. Gibt es nicht irgendwelche Dokumente, die du ordnen musst? Notfalls schleppe ich auch Balken oder Werkzeug.«
»Kommt gar nicht infrage!«, entgegnete Georg bestimmt. »Du wirst dir nicht die Hände ruinieren bei dieser harten Arbeit. Wenn die Sternwarte steht, kannst du dich so lange hier aufhalten, wie du willst. Aber jetzt kann ich nicht riskieren, dass dir irgendwas auf den Kopf fällt oder du anderweitig verletzt wirst. Dazu bist du zu kostbar!«
Lillian hätte einwenden können, dass sie alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, doch sie erkannte, dass ihr Großvater keinen Widerspruch dulden würde.
»In Ordnung, Großvater«, sagte sie und umarmte ihn.
19
Am nächsten Morgen, noch bevor die Arbeiter erwachten, weckte Georg seine Enkelin. »Zieh dich an, wir wollen uns die Baustelle ansehen.«
Als sie, noch immer schlaftrunken, aus dem Zelt kletterte, hob sich der Morgennebel gerade über dem Lager. Im dämmrigen Licht waren die Zelte kaum auszumachen.
Ihr Großvater entzündete eine Laterne und bedeutete ihr dann, ihm so leise wie möglich zu folgen.
»In spätestens einer halben Stunde sind alle auf den Beinen, dann wimmelt es hier nur so von Leuten«, flüsterte er, als sie sich ein wenig von dem Lager entfernt hatten. »Außerdem ist sie im Schein der aufgehenden Sonne am schönsten.«
Nach ein paar Schritten tauchte der Bau vor ihnen auf. Am Horizont erschien das erste goldene Leuchten des neuen Tages, doch noch erreichte es den Bau nicht, der dunkel und trutzig wie ein Bergfried vor ihnen aufragte.
»Warte ein Weilchen«, sagte der Großvater, beinahe mehr zu sich selbst als zu Lillian.
Tatsächlich ergoss sich nicht einmal eine Viertelstunde später das erste rote Sonnenlicht auf die erste Etage der Sternwarte. Lillian hielt den Atem an. Nicht nur, weil das Licht einfach grandios war; auf einmal hatte sie das Gefühl, nur die Augen schließen zu müssen, um den gesamten Bau vor sich zu sehen. In den Fenstern würde sich das Licht spiegeln, und die Glaskuppel würde wie ein Edelstein funkeln. Die Aussicht musste wirklich hervorragend sein, und wenn sie nachts oben im Observatorium wäre, würde nur das Glas sie von den Sternen trennen. Wahrscheinlich werde ich dann keinen anderen Schlafplatz mehr wollen, ging es ihr durch den Kopf.
»Nun, habe ich zu viel versprochen?«, riss ihr Großvater Lillian aus ihren Gedanken.
»Nein, das hast du nicht«, entgegnete Lillian lächelnd. »Es ist wunderschön und wird nur noch von der fertigen Sternwarte zu übertreffen sein.«
»Die fertige Sternwarte wird nicht nur ihren eigenen Rohzustand übertreffen, sondern sämtliche Gebäude in der Gegend. Der Kirchturm von Christchurch wird zwar sicher höher sein, aber wenn das Licht die Kuppel trifft, wird man sie weithin sehen können wie ein Leuchtfeuer.«
»Wollen wir hoffen, dass sie nicht die Schiffe in die Irre führt«, lachte Lillian, worauf Georg den Kopf schüttelte.
»Keine Sorge, das wird sie nicht. Aber vielleicht wird sie den Seeleuten zeigen, dass das Land nicht mehr fern ist. Das wäre doch schön, oder?«
Eine Weile verharrten sie noch vor der Sternwarte, dann sagte Georg: »Komm mit, ich zeige dir den Bauplan der Kuppel. Und nach dem Frühstück reitest du wieder nach Hause, einverstanden?«
Lillian nickte. Was blieb ihr anderes übrig?
Ihr Großvater führte sie in eine provisorisch errichtete Hütte, die Bauhütte, wie er sie nannte. »Ähnlich wie bei unserem Dom zu Hause«, witzelte er, dann holte er ein langes Lederetui hervor, aus dessen Innerem er eine Karte hervorzog.
Diese breitete er auf einem Tisch aus, der so groß war, dass er fast die gesamte Hütte einnahm.
»Die Kuppel wird ein reines Wunderwerk«, erklärte Georg, während seine Augen nur so vor Eifer leuchteten. »Mr Caldwell hat einen Glasbauer aufgetan, der eine neue Art von Verstärkung für das Glas entwickelt hat. So werden wir kaum andere Materialien benötigen, und wir werden später freie Sicht auf alle möglichen Himmelskörper haben.«
Lillian lächelte still in sich hinein. Ihr Traum, den Sternen so nahe wie nie zuvor zu sein, schien sich zu bewahrheiten.
»Wird die Kuppel denn auch eine Luke haben, durch die wir unsere Teleskope richten
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