Der Rote Mond Von Kaikoura
Hintergrund treten. Lillian versank dermaßen darin, dass sie noch nicht einmal auf ihre nähere Umgebung achtete.
»Miss Ehrenfels!«, rief da jemand erstaunt neben ihr aus.
Lillian fuhr herum und blickte in das Gesicht von Henare Arana. Diesmal trug er kein Jackett über seinem Hemd, stattdessen hatte er die Ärmel hochgekrempelt, und auf seiner Hose prangten Schmutzflecken, als hätte er beim Bau selbst mit angefasst.
»Mr Arana! Schön, Sie zu sehen!«
Verwirrt blickte sie der junge Mann an, dann fragte er: »Was führt Sie hierher? Wollten Sie zu Ihrem Großvater? Ist irgendwas passiert?«
Und ob etwas passiert war, aber angesichts der Sorge in Henares Augen versagte sich Lillian, das zuzugeben.
»Ich wollte mit meinem Großvater sprechen, ist das möglich?«, fragte sie stattdessen und setzte dann hinzu: »Es ist wichtig.«
Henare wirkte immer noch verwirrt, nickte dann aber. »Natürlich. Kommen Sie, ich habe ihn vor ein paar Minuten in sein Quartier gehen sehen.«
»Ich kann es kaum erwarten, zum ersten Mal durch das Teleskop zu schauen«, sagte Lillian, während sie Henare auf einem schmalen Trampelpfad folgte.
»Das geht uns wohl allen so. Auch Mr Caldwell ist schon sehr gespannt.«
»Und Sie?« Lillian lächelte.
»Ich natürlich auch«, gab er zu. »Aber das liegt vielleicht darin begründet, dass ich Maori bin. Wir haben ein sehr enges Verhältnis zur Natur – und vor allem zu den Sternen.«
Irrte sie sich oder verfinsterte sich eine Miene wieder für einen Moment? Bevor sie das nachprüfen konnte, kam er zwei Schritte auf sie zu und blieb genau in einem der letzten Sonnenstrahlen stehen, die durch das Blätterdach fielen.
Das Licht verlieh ihm etwas Anziehendes, und sofort spürte Lillian ein Kribbeln in der Magengrube. Ein Kribbeln, das sie allerdings wieder an Ravenfield und diese verdammte Teestunde erinnerte. Deshalb senkte sie den Blick, bevor er ihr dumme Gedanken eingab.
»Kommen Sie«, sagte er sanft und führte sie an den hohen Holzstapeln vorbei zu dem kleinen Zeltlager, das für die Bauarbeiter errichtet worden war. Dicht an dicht erhoben sie sich aus dem hohen Gras, wie seltsam geformte Pilze. Auf den freien Flächen befanden sich entweder Feuerstellen oder Waschgeschirre. Einer der Männer versuchte sich als Koch; heißer, nach Zwiebeln und Fleisch riechender Dampf, gemischt mit dem Rußgeruch des Feuers, waberte über das Lager hinweg.
Ihr Großvater hauste nicht anders als die anderen, allerdings hatte man ihm zugestanden, ein Zelt allein zu bewohnen, während sich die anderen Männer zu dritt oder gar zu viert ein Zelt teilen mussten.
Verwunderte Blicke trafen Lillian, als sie vor dem Zelt ihres Großvaters stehen blieb.
»Mr Ehrenfels?«, fragte Henare höflich, während er vor dem Zelteingang verharrte.
»Ich bin hier«, ertönte es von der anderen Seite. »Kommen Sie ruhig rein!«
Henare schlug die Plane zurück und bedeutete Lillian, einzutreten.
Ihr Großvater blickte sie mit großen Augen an.
»Lilly! Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Nein, es ist nichts,«, entgegnete sie. »Ich habe mich nur schrecklich gelangweilt und wollte unbedingt mal sehen, wie es vorangeht.«
»Aber Mr Arana hält dich doch ständig auf dem Laufenden!«
Lillian blickte sich zu dem Angesprochenen um, doch der war mittlerweile vom Zelteingang verschwunden.
»Ja, das tut er, aber Sehen ist besser als Hören, das sagst du doch auch immer.«
Georg schnaufte, dann wurde seine Miene etwas milder. »Na gut. Ich kann verstehen, dass du es nicht ohne deinen alten Großvater aushalten kannst. Ich sollte unbedingt einen Mann für dich finden, der dir die Langeweile vertreibt.«
»Nicht nötig!«, entgegnete Lillian, froh darüber, dass er keine weiteren Erklärungen von ihr forderte. »Ich habe ja dich und bald schon die Sternwarte. Morgen früh musst du mir unbedingt alles zeigen!«
»Aber die Baustelle hast du doch schon gesehen!«, entgegnete Georg lachend.
»Ja, aber da war sie nicht mehr als eine Grube. Jetzt erkennt man schon langsam, was es werden soll, und ich will Adele unbedingt berichten, wie es jetzt aussieht und wie es vorangeht.«
»Hat sie dir denn schon geschrieben?«, fragte Georg, worauf Lillian den Kopf senkte.
»Nein, bisher nicht. Aber das wird mich nicht davon abhalten, ihr auch weiterhin zu schreiben.«
Georg presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts weiter, denn er wusste, dass Lillian noch immer davon überzeugt war, dass der Brief kommen würde.
»Also
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