Der Rote Mond Von Kaikoura
war, seine Gesten wirken fahrig, als würde er am ganzen Leib zittern.
»Sie müssen nach Hause gehen«, sagte Henare mit ernster Miene.
Lillian erstarrte. Tausend schreckliche Möglichkeiten schossen ihr durch den Sinn, die letztlich alle auf eines hinausliefen. »Geht es um Großvater?«
Der Maori nickte. »Es hat einen Unfall auf der Baustelle gegeben.«
»Ist er verletzt?«
»Ein Gerüst, auf dem er stand, ist zusammengebrochen.«
»Und wie geht es ihm? Ist er am Leben?«
»Ja, er lebt, aber …«
Mehr brauchte sie nicht zu wissen. Augenblicklich raffte sie ihre Röcke und rannte los, ohne auf Henare oder die erstaunten Blicke der Passanten zu achten. Ihr Herzschlag donnerte ihr in den Ohren. Was, wenn er tot ist? Wenn er so schwer verletzt ist, dass er es nicht geschafft hat? Die Worte des Maori hatten alles offen gelassen.
Doch davor hatte sie zu viel Angst gehabt. Als das Haus vor ihr auftauchte, fühlten sich ihre Beine auf einmal weich wie Butter an. Was würde sie vorfinden?
Am liebsten wäre sie stehen geblieben, doch ihre Beine trugen sie wie von selbst voran, obwohl sie kaum noch Kraft zu haben schienen. Sie passierte das Gartentor, nickte den Männern grüßend zu.
Beim Eintreten bemerkte sie einen seltsamen, beißenden Geruch in der Küche. Karbol. Der Geruch, der auch in Arztpraxen schwebte, die sie bisher glücklicherweise nur selten von innen gesehen hatte.
In der Schlafkammer ihres Großvaters vernahm sie eine Männerstimme, die sie nicht richtig verstehen konnte. Beim Näherkommen verstummte sie, und als sie in die Stube stürmte, beendete der Arzt gerade seine Untersuchung.
Ihr Großvater lag auf dem Bett. Ebenso wie sein Hemd war auch seine Hose schmutzig, eines der Hosenbeine war bis zum Knie zerrissen, Blut klebte an der blassen Haut. Sein weißes Haar war zerzaust, auf seiner Wange breitete sich ein riesiger Bluterguss aus.
»Großvater!«, rief Lillian erschrocken aus.
Eine Welle der Erleichterung überkam sie, als Georg Ehrenfels die Augen aufschlug. »Lillian«, sagte er schwach. »Was machst du denn hier?«
Lillian blickte kurz zum Doktor, der ihr nickend bedeutete, dass sie nähertreten dürfe.
»Mr Arana hat mir Bescheid gegeben, dass es einen Unfall gegeben hat.«
»Ach, das war nur ein kleines Missgeschick, nichts weiter.«
»Missgeschick?« Lillian schüttelte verständnislos den Kopf. »Das Gerüst soll zusammengebrochen sein!«
»Und dabei hat Ihr Großvater wirklich sehr großes Glück gehabt«, mischte sich der Arzt ein und reichte ihr die Hand. »Jonathan Corben. Ich bin der hiesige Arzt.«
Lillian erinnerte sich, den Namen auf einem Schild gelesen zu haben, ohne sich weitere Gedanken darum zu machen.
»Der Doktor wird mich schon wieder zusammenflicken«, meldete sich Georg wieder zu Wort. »Nicht wahr?«
»Sie werden mit dem Bruch eine Weile liegen müssen, Mr Ehrenfels.«
»Bruch?«, rief Lillian entsetzt aus, und auf einmal waren sie wieder da, die ganzen gruseligen Geschichten über ältere Menschen, die an den Folgen von Knochenbrüchen gestorben waren. Das bisschen Erleichterung, das sie gefühlt hatte, verflüchtigte sich augenblicklich wieder.
»Ja, Ihr Großvater hat sich einen Bruch am rechten Unterschenkel zugezogen. Soweit ich es beurteilen kann, nichts besonders Riskantes, doch in seinem Alter heilen die Knochen nicht mehr so gut wie bei einem jungen Menschen.«
Lillian presste erschrocken die Hände vor den Mund. »Und wie lange wird es dauern? Wird er Schäden zurückbehalten?«
»Normalerweise nicht, wenn er sich an die Hinweise hält, die ich ihm geben werde. Natürlich müssen wir das Bein schienen. Und es wird eine ganze Weile dauern, bis wir den Gips wieder abnehmen können. Leider konnte ich noch nicht absehen, worum es ging, als man mich rief. Ich werde jetzt zu meiner Praxis gehen und alles holen, was man für das Schienen eines Knochenbruchs braucht. Leisten Sie ihm am besten ein wenig Gesellschaft, Miss Ehrenfels.«
Lillian nickte und zog sich einen Stuhl ans Bett. Während sie sorgenvoll ihren Großvater betrachtete, eilte der Arzt aus dem Raum.
Tränen stiegen in ihre Augen. Natürlich hätte es noch schlimmer kommen können, doch ein Beinbruch war schon schlimm genug.
»Tja, wie du siehst, kann das Glück eine sehr launische Dame sein.«
Lillian griff nach seiner Hand und hielt sie fest. »Wie konnte das denn nur passieren, Großvater?«
»Das weiß ich nicht, denn wenn ich es gewusst hätte, wäre ich sicher nicht auf
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