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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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Stich aus dem siebzehnten Jahrhundert gehangen, für immer, er war da, im Wohnzimmer. Er ist blau im blauen Meer, er springt hoch, er hat mich einst, auf jener Überfahrt, begleitet, ich habe mich über die Reling gelehnt und ihm zugesehen. Ohne Martin, ohne sein Geschenk … ich suche die richtigen Worte. Natürlich habe ich nicht Tag für Tag, als ich einunddreissig war und zweiunddreissig und einundvierzig und zweiundvierzig und dreiundvierzig, natürlich habe ich nicht jeden Tag, bestimmt nicht einmal jedes Mal, wenn ich den Rahmen abgestaubt habe, daran gedacht, dass der Delfin Freude bedeutet und Liebe und Vertrauen, es ist schwierig, diese Wörter auszusprechen, und ich murkse so daran herum, dass ich schliesslich sage, dass es schwer sei, solche Wörter zu gebrauchen. Martin schaut kurz auf und blickt dann wieder auf sein Glas. Ich muss also weiterreden. Ich nehme einen Schluck Wein und sage dann: »Das Bild ist heruntergefallen und ich habe immer erwartet, dass Kaspar es wieder befestigt, und Kaspar hat wohl gedacht, dass ich es tue, aber er weiss ja, wie unbegabt ich im Handwerklichen bin, oder vielleicht hat Kaspar sich auch nichts gedacht dabei, aber das glaube ich eigentlich nicht, weil er doch so für Ordnung ist. Ich habe es auf das Sofa gestellt, da sieht man ja, dass etwas nicht stimmt, vielleicht wäre, wenn wir Besuch erwartet hätten, etwas passiert, weil ein Bild doch an der Wand hängen muss und nicht auf das Sofa gestellt werden soll.« Ich mache eine Pause. »Und dann hat Mimi … aber den Rest weisst du ja.«
    Jetzt sieht er mich lange an. »Nein, warum weiss ich den Rest?«
    »Ich bin weggegangen.«
    »Du bist weggegangen? Von Kaspar?«
    »Weisst du das nicht?«
    Er bewegt den Kopf hin und her. Er ist erstaunt. »Woher denn?« Er schaut mich interessiert an, und ich sehe die Reflexe des Kerzenlichts in seinen Augen.
    »Ich bin weggegangen«, sage ich nochmals.
    Er stösst einen kleinen Laut aus und legt seine Hand quer über den Tisch auf meine rechte Hand, die neben dem Teller liegt. Ich schaue in seine Augen, seine Lippen haben sich gelöst, ich spüre seine Hand auf meiner Hand. Jetzt traue ich mich. »Martin«, sage ich ins Halbdunkel, »warum hast du gesagt, dass Tante Sophie gestorben sei, sie lebt doch!«
    Er zieht seine Hand zurück und blickt vor sich auf den Tisch. Dann atmet er tief aus und sieht mir wieder ins Gesicht. »Es tut mir leid« (er macht eine Pause), »ich habe gelogen. Aber ich habe gedacht … eine Beerdigung in der Familie … da lässt dich Kaspar gehen. Stell dir vor, du hättest ihm gesagt, du müsstest nach Imalo fliegen, um mir zu helfen. Stell dir vor, wie er darauf reagiert hätte!«
    Jetzt lache ich. Er lächelt erleichtert. Die Vorstellung ist wirklich abstrus. »Ich denke, er hätte dich nicht gehen lassen«, sagt er kläglich. »Bestimmt nicht!«, lache ich. Ich lache immer weiter. Zu denken, wie Kaspar reagiert hätte, wenn ich auf ihn zugegangen wäre und gesagt hätte, ich müsse nach Imalo fliegen, ist belustigend, aber je länger ich an Kaspar denke, desto mehr macht mir das Angst, und ich schüttle schliesslich den Kopf, ich will nicht mehr an Kaspar denken.
    »Jetzt bin ich da«, sage ich, und strecke meinen rechten Arm aus, um meine Hand wieder auf seine Hand, die er zurückgezogen hat, zu legen. »Und du versprichst, dass du mich nie mehr anlügst. Ich verspreche, dich nie anzulügen.«
    Er reicht mir auch seine zweite, die rechte, Hand – es ist wie damals, als wir Kinder gewesen sind; wir haben uns seinerzeit feierlich ein Ehrenwort gegeben, wir haben uns zeremoniell die Hände geschüttelt –, und wie damals geben wir uns die Hände und strahlen uns an.
    Wir strahlen uns an, und plötzlich merke ich, wie erschöpft ich bin. »Martin, ich bin müde«, sage ich, »komm, wir gehen nach oben«. Und während wir gleichzeitig aufstehen, fällt mein Blick nochmals auf die Möwen, die dahinzuziehen scheinen und doch festgemacht sind.

12.
    Imalo hat nicht viele Einwohner. Aber es hat zwei Ampeln. In drei Minuten sind wir auf einer Strasse, die vermutlich die zentrale Achse des Ortes bildet, durch Imalo gefahren. Ganz normale, farblose, dreistöckige Häuser stehen links und rechts dieser Strasse. Die Strasse wird zu einer Brücke, die über einen breiten Fluss führt, der rastlos und grau nach rechts fliesst (ich überlege: Rechts muss hier Osten sein, das ist wie auf der Landkarte, denke ich). Auf der anderen Seite der Brücke stehen keine Häuser

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