Der rote Norden - Roman
Ellbogen, sodass ich Martin als Umriss sehe. Die Hexe kommt mir in den Sinn, die damals unter seinem Bett kauerte. Jetzt ist keine Hexe mehr da, denke ich. Und bei mir ist schon lange kein Krokodil mehr unter dem Bett. Damals habe ich erst einschlafen können, wenn ich dem Krokodil mehrfach gesagt habe, dass es ein liebes Krokodil ist und dass ich es lieb habe. Das Krokodil ist dann immer seltener gekommen. Ganz weggeblieben ist es, nachdem ich Kaspar kennengelernt habe. Aber dann … nach Violets Geburt … sie hat nachts immer so geschrien, und Kaspar wollte seine Ruhe haben, er musste ja am nächsten Morgen zur Arbeit, während ich zuhause bleiben durfte … dann habe ich nachts nicht mehr schlafen können. Das hat immer so weitergedauert, ich habe nicht schlafen können, nie richtig schlafen können; jetzt fällt es mir auf: Seit ich aus Kaspars Haus weggegangen bin (ich weiss, es sind erst fünf Nächte), schlafe ich einfach so. Ich schaue auf Martins Umriss. Er hat sich hingelegt, er liegt auf dem Rücken.
»Martin«, sage ich. Der Martin-Schatten dreht sich um, dreht sich zu mir. »Seit Kurzem kann ich schlafen. Wie steht es eigentlich bei dir?«
Erst sagt er nichts. Ich warte. Dann höre ich ihn sagen, dass er, wie immer, auch in den letzten Nächten aufgewacht sei und nicht mehr habe weiterschlafen können. Dass seine Gedanken wie immer im Kreis herumgegangen seien.
»Aber die Hexe ist weg?«, frage ich.
»Die Hexe?«
»Die Hexe unter deinem Bett!« »Ah ja«, sagt er. »Die Hexe ist schon lange weg.«
Und ich sehe Tante Sophie vor mir, sie sieht eigentlich aus wie eine Hexe, mit ihren wenigen Zähnen und dem langen, wirren Haar. »Hat sie ausgesehen wie Tante Sophie?«, frage ich leise.
»Tante Sophie?« Auch er ist leise. »Nein, eigentlich nicht. Sie hat ganz lange Fingernägel gehabt und spitze Zähne. Rote Haare.«
»Woher weisst du, wie Tante Sophie jetzt aussieht?«, frage ich.
Er lacht. Das heisst, ich höre ein schnaubendes Durchdie-Nase-Lachen. »Ich habe sie gesehen. Ich habe sie einige Male besucht im letzten Jahr. Ich habe ihr Blumen mitgebracht.«
Wenn er wirklich bei ihr zuhause war, ist es besonders fremd, dass er mir gegenüber am Telefon gesagt hat, sie sei gestorben. Und doch, es ist die einzige Idee, bei der Kaspar keinerlei Verdacht geschöpft hätte, mit deren Hilfe ich unser Haus an einem bestimmten Nachmittag einfach so hätte verlassen können. All das äussere ich aber nicht. Stattdessen frage ich Martin, ob er nicht auch meine, dass sie sich sehr verändert habe.
»Ach Sophie«, höre ich seine ruhige Stimme, »das ist nur das Alter. Und sie war immer allein.«
»Immer, seit Grossvater gestorben ist«, sage ich. Ich vernehme ein grosses Schnaufen. »Auch davor war sie allein. Grossvater war vor seinem Tod zwölf Jahre im Pflegeheim.«, höre ich ihn sagen.
Zwölf Jahre … Es fallen mir vereinzelte Besuche in diesem Heim ein. Das erste Mal habe ich Violet mitgenommen, ein braves Kind in Bluejeans, die dem alten Mann missfallen haben. Und dann, nach zwölf Jahren im Pflegheim – zwölf Jahre sind eine lange Zeit – die Beerdigung. »Erinnerst du dich an Grossvaters Beerdigung?«, frage ich nach einer Pause.
»Ja«, sagt er. »Das heisst, ich erinnere mich weniger an die Beerdigung als an etwas, was vorher passiert ist.«
Was ist das? Martin will mir etwas erzählen! Das hat er dreissig Jahre lang nicht getan. Er will mir etwas von sich erzählen.
»Was denn?«
Zuerst sagt er nichts. Ich warte. Sein Schatten bewegt sich etwas. Ich vernehme ein Räuspern, dann noch eines. Aber irgendwann fängt er an.
»Wir hatten eine Ferienwohnung gemietet. Natalie, ich, die Kinder. Grossvater ist ja zwischen Weihnachten und Neujahr gestorben. Natalie und ich, wir haben gedacht, die Ferienwohnung würde uns guttun. Ausspannen. Skifahren. In der Sonne spazieren. Sie meinte, es würde auch den Kindern guttun. Sie waren ja noch klein. Zweijährig.«
Er sagt nichts mehr. Ich warte. Eine Minute, zwei Minuten. Vielleicht muss er sich erinnern, wie es genau war. Dann fährt er fort:
»Wir sind nicht viel zum Skifahren gekommen. Wegen der Kinder. Wir haben mit ihnen geschlittelt. Oder wir sind spazierengegangen im Schnee, auf präparierten Wegen natürlich, und haben sie auf je einem Schlitten hinter uns hergezogen. Sie waren« (Pause) »warm eingepackt in … Schlittensäcke, graue Schlittensäcke mit gelbem Futter. Manchmal bin ich doch Ski gefahren. Alleine. Ein- oder zweimal ist
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