Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
Vom Netzwerk:
Und Martin sagt: »Du meinst, es müsste heissen: Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Himmel – wenn es sich um einen See und nicht um einen Wasserfall handelt?«
    »Ja«, sage ich.
    Wir schauen uns in die Augen. Und dann schüttelt er den Kopf: »Die Menschenseele reflektiert nicht nur«, sagt er langsam. »Sie ist auch etwas aus sich heraus.« Ich blicke auf meine zu dicke Hand, die die Gabel hält, und dann auf das glänzende, sich ständig verändernde Wasser jenseits der Scheibe. »Was ist mit
Schicksal
gemeint, Martin? Die Gesellschaft, von der so viel gesprochen worden ist, als wir an der Uni waren – nun, ich bin ja kaum dort gewesen? Sachzwänge?«
    Auch er blickt jetzt nach draussen. Er wartet etwas, bevor er antwortet. Er formuliert langsam: »Schicksal meint, dass das, was auf einen zukommt, das, was man erlebt, einem von einer höheren Instanz geschickt worden ist. Wenn dein Handeln Sachzwängen unterliegt, fehlt jede Möglichkeit der Existenz einer höheren Instanz …« Er sucht nach den richtigen Worten und endet dann rasch: »Der Mensch, der sich als im Horizont einer höheren Instanz existierend begreift, hat die Chance, die Welt deuten zu können.« Ich verstehe, was er meint. Martin drückt sich so aus, da ich die Uni erwähnt habe. Der Professor, dem ich zwei Semester lang zugehört, von dem ich Martin vorgeschwärmt habe, weshalb Martin später auch zu einem seiner Studenten geworden ist – dieser Professor hat immer »im Horizont von …« gesagt.
    »Martin, glaubst du an das Schicksal oder glaubst du an Sachzwänge?« Er dreht mir sein Gesicht zu, und ich ärgere mich, dass ich das, was ich sagen möchte, so schlampig formuliert habe. Ich korrigiere mich, hastig zuerst, und dann bedächtiger, weil ich die richtigen Ausdrücke nicht sofort zur Hand habe. »Martin, glaubst du, dass du vom Schicksal gelenkt, oder … von Sachzwängen bestimmt wirst?« Ich spüre, ich habe keine Übung darin, das, was ich sagen möchte, zu sagen. Er legt den Kopf in die Hand des aufgestützten Armes und sieht wieder hinaus. Der See wirft ein fahles Licht auf sein Gesicht. Schliesslich sagt er, er wisse es nicht. Ich solle mir eine Ameise vorstellen. Diese Ameise sei sicher der Auffassung, dass sie ihre Ameisenarbeit freiwillig tue. Wenn wir sie beobachteten, sähen wir, dass ihr Tun von Sachzwängen bestimmt sei. Und doch – möglicherweise habe eine höhere Instanz der Ameise ihre Ameisenarbeit als Schicksal geschickt.
    »Du bist keine Ameise«, sage ich.
    »Warum nicht?«, fragt Martin. Er schluckt und reckt kurz das Kinn etwas hoch. Aber dann blickt er mir direkt in die Augen, er runzelt seine Stirne. »Erinnerst du dich? Ich habe vorher gesagt, dass die Seele des Menschen nicht nur reflektiert. Und darum, weil die Seele des Menschen, so wie ich sie sehe, nicht nur wie das Wasser die jeweilige Farbe des Himmels spiegelt, sondern …«, er macht eine Pause, sucht und schliesst dann abrupt: »Darum muss ich das machen, was ich jetzt mache, was wir zusammen machen«.
    Ich denke: Er sagt, er
muss
das machen, was er macht, er tönt, als ob das ein Sachzwang wäre. Aber ich äussere das nicht. Ich sage nichts. Ich denke daran, was Martin von der Menschenseele gesagt hat. Dabei kommen mir die Rentiere in den Sinn, die ich gestern gesehen habe: helle Tiere mit recht kurzen braun-samtigen Geweihen. Sie haben mit dunklen, leicht hervorstehenden Augen geschaut. Ich habe kaum Erfahrung mit Tieren, denke ich, weil Kaspar mir verboten hat, ein Haustier zu halten. Aber warum soll nur die Menschenseele die Möglichkeit zur Freiheit in sich haben? Es fällt mir auf, dass Martin das Wort »Freiheit« vermieden hat.
    Die Katze Mimi, die am Anfang dessen steht, das mich hierhin, in den Roten Norden gebracht hat. Sie hat immer genau das gemacht, was sie wollte. Ich nicke.
    Der See ist dunkler geworden, das Licht ist vom Himmel verschwunden. Ich lege die Gabel hin und stehe auf. »Ich gehe in unser Zimmer«, sage ich und greife nach dem Schlüssel, der auf dem Tisch liegt.

17.
    Diese Nacht stehen die Betten nicht nebeneinander. Ich liege auf dem Rücken. Ich habe das Gefühl, dass ich so breit wie das Bett bin. Martin ist im Bad. Der Lichtschein aus dem Badezimmer (winzig auch dieses, aber ganz neu) dringt unter der schlecht schliessenden Türe durch. Dann löscht Martin das Licht. Ich höre, wie er die Türe einklinkt, durch den Raum geht und sich in das andere Bett legt. Ich drehe mich um, stütze mich auf den

Weitere Kostenlose Bücher