Der rote Norden - Roman
steigt das Bild des Delfins in mir auf – nicht das Bild, das jahrzehntelang in meinem Wohnzimmer gehangen hat, sondern das Erlebnis, ich lehne mich an die Reling, alles ist blau, alles schimmert; das Meer, der Delfin, der Himmel, der Fahrtwind, die Luft schmeckt salzig, ich habe das Gefühl, auch ich gehöre in dieses blaue Schimmern hinein. Mein Herz pocht. Ich weiss, ich habe das einmal wirklich erlebt. Damals habe ich mir keine Gedanken gemacht, ob ich den Weg kenne; ich glaubte ihn zu kennen, das genügte. Ich schlage meine Augen wieder auf. Wir fahren durch ein nicht enden wollendes rotes Gebiet, und darüber spannt sich der blaue Himmel.
Dann stoppt Martin. Aber es ist nicht das Ziel – nur eine Zwischenstation. Wir werden hier übernachten. Ich steige aus. Wieder ein weissgestrichenes zweistöckiges Hotel. Wieder eine Tankstelle. Wieder ein Supermarkt gegenüber. Ich überlege mir, Wasser zu kaufen, bevor wir morgen losfahren. Bananen und Mandeln, Bananen und Mandeln, Martin und Sophie damals, Martin und Sophie heute … dennoch, einige Flaschen Wasser wären sinnvoll.
Der Himmel ist immer noch tiefblau, als wir das Hotel betreten. Wir finden rasch unser Zimmer im ersten Stock. Martin sperrt es auf. Ein enger Raum; je ein extrem schmales Bett, parallel an den Längswänden, dazwischen, am Fenster, ein quadratischer Holztisch, ein hölzerner Stuhl daneben. Ich ziehe das weisse Rollo hoch. Nun spiegeln sich die Möbel in der Scheibe. Ich lehne die Stirn ans Glas und schaue nach draussen. Vor dem Fenster wölbt sich ein Vordach, es verdeckt fast die ganze Sicht auf die Strasse. Das Vordach ist mit dunkelgrauer Dachpappe belegt, über die sich ein weisses Kabel schlängelt. Einige Platten aus undefinierbarem Material und zusammengeknüllter Einwickelplastik liegen auf dem Vordach. Der Himmel ist jetzt pastellblau, dämmriges Licht liegt auf der Strasse. Ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern gleitet vorbei.
Martin sitzt auf einem der Betten. Er sieht mich an. »Sie haben kein besseres Zimmer gehabt«, sagt er. »Sie sagen, sie sind ausgebucht.«
Ausgebucht? Seltsam. Ich habe den Eindruck, hier sind fast keine Menschen. Aber ich sage: »Martin, Hauptsache, wir sind da.« Und nach einer Pause füge ich hinzu: »Du hast ein Ziel, und wir kommen ihm näher.«
»Ja«, sagt er. Er schaut auf seine Knie. »Morgen kommen wir an.«
16.
Wir sitzen im Hotelrestaurant und essen zu Abend. Auch dieses Hotel liegt an einem See – wie das, in dem wir gestern übernachtet haben. Wir sitzen am Fenster mit Blick auf den See. Wir sind ganz alleine im Restaurant. Ein massiger Mann bedient uns. Er ist sehr höflich; und doch traue ich mich nicht, ihn nach den vielen anderen Gästen zu fragen, die es doch irgendwo geben muss.
Hier gibt es auf der Karte nicht nur Rentierbraten und Rentiergulasch, sondern auch Elchgerichte. Es leben also hier in der Gegend Elche. Ich blicke Martin, der die Speisekarte studiert, über meine Karte hinweg an und murmle: »Vieles sieht man nicht.«
»Wie bitte?« Er schaut verblüfft auf. »Der Elch«, sage ich. »Er muss hier irgendwo sein, sonst wäre ja kein Elchfleisch auf der Speisekarte.«
»Wir können es probieren«, sagt Martin. Er richtet sich auf und nickt mir zu. »Wir verifizieren seine Existenz, indem wir ihn essen.« Und so bestellt er Elchrouladen, und ich bestelle Elchragout.
Ich weiss nicht, ob Martins Satz vom Verifizieren schlüssig ist. Aber er tönt elegant. Und das Ragout, das dann serviert wird, ist gut, es ist mit Rotweinsauce getränkt, und daneben liegt Kartoffelpüree. ----
Ich sehe zum Fenster hinaus und sehe den Himmel. Er ist wolkenlos hellgrau, nur am Horizont, oberhalb des dunklen Waldes am gegenüberliegenden Ufer ist er von einem gelblichen Weiss. Und seine Helligkeit spiegelt sich im beweglichen, bewegten Wasser des Sees.
Gestern Abend: Gestern waren See und Himmel rosarot.
»Es hängt vom Himmel ab, wie der See ist« sage ich vor mich hin. Martin schiebt gerade mit dem Messer Kartoffelbrei auf seine Gabel; er blickt auf und dann schaut er zum Fenster hinaus. »Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser« – der Vers, den ich da zitiere, ist mir durch das Gedächtnis gerutscht.
Martin nickt und fügt den letzten Vers des Gedichts hinzu: »Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind«.
Ich lächle. Es ist gut, wenn man ein Gedicht zitieren darf und nicht deswegen ausgelacht wird. Ich habe mehr als dreissig Jahre keine Gedichte mehr zitiert.
Weitere Kostenlose Bücher