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Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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auch bald geben.
    Die Enkelin meiner Cousine Evelyn war ein paar Tage bei mir auf dem Land zu Besuch. Sehe ich Philippas rote Stiefel, das weiße Kleid, den blauen Hut und die raubkatzenhafte Geschmeidigkeit, mit der sie aus der alten Sandspinnegleitet, habe ich mich in den späten Siebzigern lebhaft vor Augen. Sie ist so alt, wie Kronprinzessin Luise war, als sie nach Preußen kam. Wir sind uns sehr ähnlich, und der einzige kleine Unterschied, diese lächerlichen paar Jahre, verschwinden gänzlich, wenn wir beisammen sind und uns austauschen. Ob Sie es glauben oder als wunderliche Bemerkung einer Alten abtun: Mit seinen achtundsechzig ist Jérôme heute viel jünger und geistig beweglicher als mit vierunddreißig, Und er war mir schon 1786, im Jahr unserer Heirat, um acht Jahre voraus.
    All die Unruhe Berlins wurde über der Provinz ausgesprüht, während Philippa mir die neuesten Neuigkeiten berichtete. Ich erlebte den jüngsten Salon der eitlen Levin, als sei ich dabei gewesen. Seit letztem Oktober ist sie wieder in Berlin, inzwischen verheiratet mit einem gewissen Varnhagen von Ense, einem steifen Patron, dessen Goetheverehrung so weit geht, dass er seinen Heros in der Haltung und im Sprechen nachahmt. Da er dieselbe plattfüßige Natur besitzt und auch die Hände wie zwei Flügel über dem ausladenden Gesäß verschränkt und dabei den Kopf vorneigt, hat er allseits den Spottnamen Varnhagen von Ente bekommen, was – wenn sie es hört, die kleine Rahel noch blassblütiger macht vor unsäglicher, unproduktiver Wut. Welch ein Glück, dass ich ihren neuerlichen Stall der Kulturziegen nicht zu besuchen brauche, denn es würde mich töten, ihnen auch nur eine Sekunde beim Grasen und Meckern beiwohnen zu müssen.
    Seit Jahren besuche ich Berlin höchstens ein oder zwei Mal im Monat. Ich muss sagen, dass mir die Berichte der Großnichte vollauf genügen. Meine liebste Philippa! Sie hatte drei Tage zu tun, um mit dem Wichtigsten zurande zu kommen. Allmählich wurde sie ruhiger, lachte häufiger, statt wasserfallartig zu reden, freute sich an den späten Blumenund Gemüsen im Garten, an den Schmetterlingen, den Vögeln, den Wolken, sah versonnen auf die Mückenschwärme, die im Zwielicht tanzten. Sogar die Sterne und die Ruhe fielen ihr auf, wenn wir abends in Decken eingepackt draußen saßen. Und gestern, bevor sie wieder zurückfuhr, um im großmütterlichen Delicatess-Comptoire ihr Tagwerk fortzusetzen, standen ihr die Tränen in den Augen. Verträumt schaute sie und wollte dableiben. Das macht der Zauber von Kanzow.
    Ich hatte Philippa, einem letztjährigen Versprechen folgend, weiter aus meinem Leben erzählt und war von der Heirat bis in das Jahr gelangt, in dem ich auf eigene Faust mit einem ersten Fall in die kriminalistischen Fußstapfen meines Urgroßvaters trat. Es wurde damals öffentlich so gut wie nichts über jene unnatürlichen Todesfälle bekannt, denn der Vater des jetzigen Königs hatte kein Interesse an schlechter Publizität – begreiflicherweise, möchte ich sagen, denn dieses schreckliche 1793 war nicht eben sein ruhmvollstes Jahr in einer Reihe an Ruhm armer. Der geplante
Spaziergang nach Paris
war ein Fiasko und die Eroberung von Mainz fast nicht der Rede wert, wenn man von der die Damenwelt beunruhigenden Meldung absieht, dass der Prinz Louis Ferdinand dabei eine kleine Schramme erhielt …
    Doch das alles änderte nichts daran, dass schon vor der Doppelhochzeit, die damals für Monate das Tagesgespräch in Berlin beherrschte, auch die sogenannten Harfenmorde das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen. Nachrichten innerhalb Berlins wurden seinerzeit noch vorwiegend mündlich verbreitet.
    Was ich Philippa über jenen fernen Dezember andeutete, ließ sie vor Neugier fast vergehen, und so flehte sie beim Abschied: »Schreib es auf, Großtantchen! Bitte, schreib esmir, in Briefen! Oder in einem kleinen Roman! Das wäre noch weitaus besser! Mein Gott, was sie alle für Augen machen würden … Stell dir bloß vor, was die Varnhagen empfinden müsste, wenn sie lesen könnte, wie wenig sie doch im Grunde erlebt hat und wie belanglos ihre ganze Stubenexistenz ist! Ich sage dir, es ist das nichtigste Frauenzimmer unter der Sonne. Beinahe noch ärger als die Herz ist sie, und du würdest sie alle mit einem Federstreich erledigen … hinwegfedern!«
    Wir haben über dieses Wort herzlich gelacht. Philippa ist raffiniert, sie weiß genau, was ich über ihre Salonlöwinnen denke. Im Salon der

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