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Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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Erklärung der Frauenrechte hatte ihr einen finalen Schnitt am Hals eingebracht. Die Revolution fraß nicht nur ihre männlichen, sondern auch ihre weiblichen Triebkräfte.
    Ich würde der Gouze niemals nacheifern und fühlte keinen Drang, meinen Jérôme durch einen anderen zu ersetzen, und diesen durch den nächsten und den übernächsten … Warum hätte ich auch sollen? Er war und ist mein Ein und Alles! Ich wünschte Anne de Pouquet somit nur ein glückliches Fest und stellte mir vor, wie sie und ihr Geliebter das vom Schnee verzauberte Berlin aus dem warmen Liebesnest heraus betrachten würden.
    Hatte Anne de Pouquet jemals einen Mann erwähnt, mündlich oder schriftlich? Ich konnte mich nicht erinnern. Zudem bin ich eine flüchtige Leserin, das will ich gern eingestehen, solange mich nicht gute Gründe zur Aufmerksamkeit zwingen. Ich nahm mir ihre Briefe am Abend ihrer Absage noch einmal vor. Mir fiel auf, dass sie schon des Öfteren von Geistern geschrieben hatte. Hier hänge ich die Stellen hintereinander, um einen Eindruck des Tonfalls zu vermitteln:
    »Es ist eine Aura um mich her, wenn ich innigst an die großen Abgeschiedenen denke, die aus dem Geisterreich betrübt in Frankreichs Zukunft blicken! Die Krone, so wunderbar, wie einst der himmlische Bräutigam, der mich erwählte, sie trug, sitzt auf meinem Haupt. Oh, könnte ich Dir nur annähernd beschreiben, welch einGefühl es ist, den Geistern zu begegnen, mit ihnen zu sprechen …«
    »Du sollst mich nicht für eine Betschwester halten, wenn ich Dir von meinen Zitationen rede. Meine Andacht ist voller Feuer, doch ich weiß wohl, dass ich mich zu weit von der Welt der Menschen entferne, wenn ich zu Dir so rede. Ich spreche oft zum Ahn der Franzosenkönige: zu Frankreichs stillem und weisen König, dessen Krone wir im Innersten bewahren …«
    »Keiner der vielen anderen, den wir aus den Fluten der Seine gerufen haben, in die der Pöbel sie geworfen, bewegt mich so … Durch Töne reinen Gesangs oder ein gut gespieltes Musikstück wird seine eilende, rastlose Natur für kurze Momente zum Verweilen gezwungen …«
    »Und wenn er da ist, wenn wir in seiner Anwesenheit sind, erfüllt uns sein Geist… Die Idee des künftigen Königtums ist dann wie die wertvollste aller Kronen auf meinem Kopf…«
    Ich erschrak über die Entrückung und Weltferne, die aus diesen Zeilen sprach. Wenn ich sie als Auszug las, nur diese Stellen hintereinanderweg, so kamen sie mir seltsam verrückt vor, ja ich fürchtete um die geistige Gesundheit der Schreiberin … Nein, all diese Worte schienen mir nicht auf einen Irdischen gemünzt zu sein. Sie sprach von der Liebe zu einer Lichtgestalt, zu einem Erlöser, Heiland. Sie redete vom himmlischen Bräutigam – von Jesus Christus? Dann wieder von einem Geist, den sie zitierte. Sie betete zu einer Schimäre. Das konnte nicht der echte Mann sein, den ich hinter ihrem letzten Brief vermutete.
    Die Arbeitslast unterdrückte in den folgenden Tagen sogar meine Lust, ihrem Willen zuwiderzuhandeln und sie frech herauszuklopfen, um sie so, wohlig aufgelöst, neben ihremgeheimnisvollen Besuch durch den Türspalt in Augenschein zu nehmen.
    Zudem versetzte ein Brand in der Wilhelmstraße halb Berlin in Aufruhr und ließ den Gedanken an Expeditionen zum Rondell verkümmern. Es tuteten die Feuerhörner, es läuteten die Glocken. Löschkarren und Handwerkertrupps, im ewigen Wettstreit um den Taler und die zehn Silbergroschen Belohnung dafür, als Erste bei der Brandstätte zu sein, dröhnten durch die Mohrenstraße. Später hieß es, ein kleines Haus, auf halbem Wege zum Halleschen Tor, sei bis auf die Grundmauern niedergebrannt; zwei Wohnungen, eine davon an einen Emigranten vermietet. Wahrscheinlich tot. Brandstiftung! Man habe ein Zündbesteck gefunden. Auch wollte der Hausbesitzer, der mit dem Leben davonkam, eine dunkle Gestalt bemerkt haben, die ums Haus schlich. Die Genauigkeit mancher Personenbeschreibungen versetzt mich mitunter in ehrfürchtiges Staunen …
    Wir waren unterdessen gezwungen, zwanzig kleine Lampions in Ballonform anzufertigen, die Großmutters Phantasie zufolge mit brennenden Kerzen in den kleinen Gondeln als Hauptschmuck den Festbaum im Saal in der Roßstraße zieren sollten. Ich fügte mich seufzend drein. Mit einem noch immer kindlich-hoffnungsfrohen Gefühl entsann ich mich des Zuckerwerks und der kleinen Präsente, die früher für die Kinder am großen Tannenbaum hingen. Tag für Tag wurde davon gepflückt, bis

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