Der rote Salon
Landgrafenlinien von Hessen: Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg. Viele Vorfahren in diesem Zweig hatten das zweite Gesicht, nicht wenige spukten … Hier wurde mancher verstohlene Blick zum regierenden Landgrafen geworfen, denn es war klar, dass bei so gravierender Vorbelastung etwas auf ihn abgefärbt haben musste. Er wirkte in der Tat sehr … vergeistigt.
Wir schieden von den Prinzessinnen mit den innigsten Beteuerungen der Zuneigung und Freundschaft, wenngleich Anne de Pouquet und ich genügend Wirklichkeitssinn besaßen, Luises und Friederikes Freudenbekundungen über ein baldiges Wiedersehen in Berlin durch die mildernde Brille der besonderen Umstände zu betrachten.
Die weite Reise in die ferne preußische Hauptstadt war beschwerlich, aber sie verlief frei von Zwischenfällen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Grenzen wir passierten, aber ein halbes Dutzend waren es sicher, und war heilfroh, als wir den Tempelhofer Berg hinabrollten, aufs Hallesche Tor zu, und ich endlich wieder die liebwerte Heimatstadt zu meinen Füßen hingestreckt sah.
Großmutter Marie nahm uns mit Freuden auf. Sie hatte sich kaum Hoffnung gemacht, uns noch einmal lebend wiederzusehen. Wir machten allerhand Pläne für unsere Zukunft. Jérôme wollte Ballonauffahrten für das Publikum veranstalten. Zugleich aber gedachten wir, unsere hauptstädtische Existenz auf festere Beine zu stellen. Den Cameras obscuras wurde bei Künstlern wachsendes Interesse entgegengebracht. Auch Taschenperspektive waren wohl ein stets verkäufliches Produkt, indes entging uns nicht, welcheSpielzeuge bei den Berlinern den Vogel abschossen: die Laternae magicae, die magischen oder Zauberlaternen! So erblickte die segensreiche Idee, außer kleinen Fernrohren und Wetterstationen und Lochkameras auch magische Bildwerfer herzustellen, das Berliner Licht. Wir sollten es nicht bereuen – es wurde ein dauerhaft gutes Geschäft, bis heute. Später kamen wissenschaftliche Vermessungsgeräte wie Theodolite und Sextanten hinzu. Von heute aus betrachtet, war es eine merkwürdige Idee, Laternen des Grauens herzustellen, während die Schreckensherrscher in Paris die Königin köpften. Aber es war nun einmal eine grausame Zeit voller schauerlicher Ereignisse.
Wir mieteten ein kleines, schmales Haus in der Mohrenstraße, unmittelbar neben der Dreifaltigkeitskirche, ein Stück in Richtung auf den Wilhelmsmarkt, das unseren anfangs noch bescheidenen Plänen sehr entgegenkam. Im Parterre nahmen die Küche und die Werkstatt ihren Platz ein, zugleich Wohn- und Empfangszimmer. In der oberen Etage lagerten Waren und Rohstoffe; zudem stand dort unser Ehebett. An Nachwuchs dachten wir damals noch nicht. Es war für einen Marquis und eine Marquise, die wir ja dem Stande nach hätten sein können, sicher eine ungewöhnliche Behausung. Doch uns gefiel es, und die Berliner fanden die adelige Wohn- und Lebefabrik vollends spaßig.
Als es Herbst wurde, waren wir so weit konsolidiert, dass wir mit einiger Zuversicht nach vorne blicken konnten. Rechtzeitig zu Weihnachten hatten wir einen für jedermann erschwinglichen Bildwerfer produziert, der kleiner, leichter und doch optisch besser war als alle anderen. Ein in Großmutters Laden aufgebauter und täglich nachmittags mit großer Wirkung vorgeführter Prototyp unserer Zauberlaterne tat seine Wirkung. Wir kamen fast nicht zurande mit all den Bestellungen. Die Kleinen aus der großen Familieübernahmen das Malen der Miniaturen auf die Bildscheibchen. Es machte allen großen Spaß. Die Revolution verblasste in der Entfernung – wie ein Bild, das auf sich auflösenden Nebel projiziert wird. Es hatte sogar wirklich den Anschein, dass das System des Terrors sich bald vernichten würde. Welch törichte Verzerrungen der tatsächlichen politischen Verhältnisse doch allein durch die räumliche Entfernung entstehen können!
Mir graute ein wenig vor der zweiten Dezemberhälfte, insbesondere auch vor den wenigen Tagen bis zum Heiligabend, denn die Zahl der Bestellungen vermehrte sich noch immer, obwohl wir schon mehrere hundert magische Bildwerfer verkauft hatten. Die meisten Kunden waren zu ungeduldig, bis Weihnachten zu warten. Der wohlige Schauder, die bloße Illusion der Gefahr – eine schauerliche Séance nach Art von Schillers
Geisterseher
–; danach verlangte es die braven Bürger damals des Abends: die Frauen, um sich recht zu gruseln, und die Männer, um das sogenannte schwache Geschlecht beschützen zu können.
Der Optiker Rall aus der
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