Der rote Salon
ausgewiesen. Wir hatten vor, nach Frankfurt zu gehen und weiter nach Berlin. Doch die sogenannte
Exportation
funktionierte nicht. Erst ließ uns keiner hinaus: Die Wache an der Rheinbrücke wusste von nichts, und ein Munizipalbeamter erklärte mundvollst, dass es gar keine Exportation gäbe … Bei einem zweiten Versuch versperrte uns die unter preußischer Führung angetretene Belagerungsarmee den Weg. Der kommandierende General wollte, scheint’s, nicht, dass den Mainzern Vorteile durch diese Verminderung der Zivilbevölkerung entstünden: weniger Menschen – länger reichende Vorräte. Dabei wäre man mit diesen sowieso noch Monate ausgekommen. Auch Generäle rechnen wie Milchmädchen, dachte ich, ohne zu wissen, wer derjenige war, dem ich so viel Ignoranz vorwarf.
Wohl oder übel richteten sich Anne de Pouquet, Jérôme und ich in einer Masse von Tausenden auf ein kaltes Maiennachtlager im Freien zwischen den Fronten ein. Mein Gatte indes trug einen Trumpf an seiner republikanischen Uniformjacke, von dem er nichts ahnte – das Abzeichen des Cincinnatusordens. Auf wundersame Weise kam es zu einer Wiederbegegnung, die unser Glück wurde: Ein bei den Preußen stehender Soldat, der dieses unverkennbare goldene Merkmal mit dem schwarzen Adler sah, rief urplötzlich zu Jérôme herüber:
»Yorcktown?«
Es war ein Lieutenant, der Seit an Seit mit Jérôme die amerikanische Unabhängigkeit von den Briten erfochten hatte. Sie begrüßten einander lautstark und wechselten einigeWorte auf Englisch, die den Umstehenden unverständlich bleiben mussten.
Die Reihe der Preußen öffnete sich. Im preußischen Lager herrschte Aufruhr, und man wurde plötzlich sehr hellhörig, als unser richtiger Name fiel: de Lalande. In Frankreich hatten wir uns aus guten Gründen schlicht »Granget« genannt. Anne de Pouquet stutzte, dann lachte sie zerstreut und seltsam befreit.
Eine riesige Gestalt, die mir dunkel vertraut vorkam, bahnte sich einen Weg durch den Pulk der einfachen Soldaten, der uns umstand. Erst glaubte ich, eine geisterhafte Erscheinung vor mir zu sehen, denn die Ähnlichkeit mit meinem Urgroßvater war einfach zu groß. Doch dann schloss ich weinend und lachend meinen Vater Honoré, den Befehlshaber des Regiments von Beeren, in die Arme!
Ich begegnete dort auch einem alten Bekannten, den ich zuletzt im Berliner Tiergarten in den Zelten erlebt hatte: dem Herrn von Goethe, der mit seinem Herzog als militärischer Beobachter an der Mainzer Belagerung teilnahm. Wir blieben ein paar Tage Gast der Truppe und durften uns Hoffnung machen, Pässe für die Reise nach Berlin zu erhalten.
Goethes Verdienst war es, Jérôme, Anne de Pouquet und mir einen ersten heimlichen Blick auf die künftige preußische Kronprinzessin und ihre Schwester zu ermöglichen, die dort inmitten des Belagerungsheeres ihre Verlobten trafen, den Kronprinzen und seinen Bruder. Wir heftelten uns bei Goethe ins Zelt ein und durften so durch einige Schlitze im Stoff alles aufs Genaueste beobachten. Die Turtelnden wandelten unmittelbar vor uns ganz vertraulich auf und nieder. Luise und Friederike schritten wie zwei Engel durch das Getümmel des kriegerischen Feldlagers: himmlische Erscheinungen! Das war mein erster Eindruck, der mir niemals verlöschen wird. Kronprinz Friedrich Wilhelm, alssteifer Stock verschrien, verwandelte sich in Gegenwart seiner Luise: Er lächelte, lachte, rezitierte Verse, was immer noch so blechern und drehwalzenartig klang, dass wir Mühe hatten, uns das Lachen zu verbeißen.
Sein Bruder Louis war hübscher. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, mir wäre, glaube ich, die Krone nicht so wichtig gewesen … Indessen: So hinreißend wie Louis Ferdinand, Prinz Ferdinands Sohn, war Friedrich Wilhelms Bruder Louis bei Weitem nicht, und ich konnte gut verstehen, was sich im Laufe dieses ebenso freuden- wie verhängnisvollen Jahres zwischen dem Lebemann und den feengleichen Schwestern anbahnen sollte.
»Ei fahre Se doch aach mit, zur Redutt in Hombursch!«
Goethe konnte hinreißend frankfurtern, wenn er gut aufgelegt war, und das war er an diesem schönen Nachmittag. Mein Vater fühlte – ganz Diplomat und Militär – beim Kronprinzen vor, und der zeigte sich tatsächlich höchst erfreut über die Verstärkung des kleinen Redouten-Corps. Man befürchtete, bei der Tanzgesellschaft im ländlichen Homburg wie weiße Raben zu wirken, auf die
das Gevögel herabstößt,
wie der Herr Geheime Legationsrat sich ausdrückte und genüsslich
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