Der Rote Sarg
und ich sind nicht so verschieden. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätten wir Freunde sein können. Was uns trennt, sind nur diese Gitterstäbe und das, was wir in dieser Welt gesehen haben.«
»Sind Sie schuldig?«, fragte Alexej. »Haben Sie versucht, meinen Vater zu töten?«
Grodek blieb stumm.
Irgendwo im Schatten tropfte Wasser von der Decke. Von draußen hörten sie die Wellen gegen die Festungswälle schlagen, ein Rumoren wie von fernem Donner.
»Ja, das habe ich versucht«, sagte Grodek schließlich.
»Und was würden Sie jetzt tun«, fragte der Zarewitsch, »wenn ich diese Tür öffne und Sie freilasse?«
»Ich würde weit weggehen«, versprach Grodek. »Sie würden von mir nie mehr hören.«
Die Feuchtigkeit des Verlieses ging Pekkala durch und durch, sie kroch einem unter die Haut und in die Knochen. Es schauderte ihn.
Alexej wandte sich an seinen Vater. »Er soll nicht hingerichtet werden. Er soll für den Rest seines Lebens hier in dieser Zelle bleiben.«
»Bitte, Exzellenz«, bettelte Grodek. »Ich bekomme nie die Sonne zu Gesicht. Das Essen hier taugt noch nicht einmal für die Hunde. Lassen Sie mich raus! Lassen Sie mich frei! Ich werde verschwinden. Lieber möchte ich sterben als weiter in dieser Zelle bleiben.«
Alexej starrte Grodek nur an. »Dann lassen Sie sich etwas einfallen, wie Sie sich das Leben nehmen«, erwiderte er. Die Angst war aus seinem Blick gewichen.
Bevor sie gingen, rückte der Zar ganz nah an das Gitter heran. »Wie können Sie es wagen zu behaupten, Sie seien wie er? Sie sind nichts dergleichen. Vergessen Sie nicht: Alexej wird über dieses Land herrschen, wenn ich nicht mehr bin, und falls Sie noch so lange leben sollten, dann nur, weil er solchen Bestien wie Ihnen gegenüber gnädig ist.«
Während der Rückfahrt auf dem Boot stand Pekkala neben dem Zaren. Pekkala sog tief die kalte salzige Luft ein und versuchte, den Gestank des Gefängnisses loszuwerden.
»Sie halten mich für grausam, Pekkala?«, fragte der Zar. Sein Blick war geradeaus auf das Ufer gerichtet.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, erwiderte Pekkala.
»Er muss die Bürde der Befehlsgewalt lernen.«
»Und warum haben Sie mich mitgenommen, Exzellenz?«
»Eines Tages wird er sich auf Sie verlassen, Pekkala, so wie ich mich jetzt auf Sie verlasse. Sie müssen seine Stärken und seine Schwächen besser kennen als er selbst. Vor allem seine Schwächen.«
»Was meinen Sie, Exzellenz?«
Der Zar sah kurz zu ihm, bevor er den Blick wieder abwandte. Das Revers seines Mantels war, wo sein Atem darauf fiel, von einer Reifschicht überzogen. »Als ich jung war, hat mein Vater mich auf diese Insel gebracht. Er ging mit mir hinunter zu den Verliesen und zeigte mir einen Mann, der an einem Mordkomplott gegen ihn beteiligt gewesen war. Ich hatte die gleiche Entscheidung wie Alexej zu treffen.«
»Und wie haben Sie entschieden, Exzellenz?«
»Ich habe den Mann eigenhändig erschossen.« Der Zar hielt inne. »Mein Sohn hat ein sanftes Herz, Pekkala, und Sie und ich wissen, dass das Sanfte in der Welt über kurz oder lang zermalmt wird.«
Keine fünf Jahre später, nachdem Grodek durch die Revolutionsgarden aus der Peter-und-Paul-Festung befreit worden war, folgte er den Romanows in die westsibirische Stadt Jekaterinburg. Und dort, im Keller des Hauses, das dem Händler Ipatjew gehört hatte, erschoss Grodek den Zarewitsch und die restliche Familie.
P ekkala und Konstantin gingen in der Dunkelheit zurück zur Anlage.
Pekkala versuchte, sich vorzustellen, was in Konstantins Kopf vor sich gegangen war, als er die Pistole genommen und seinen Vater erschossen hatte. Es gab Verbrechen, die Pekkala verstand. Selbst manche Motive für einen Mord erschienen ihm nachvollziehbar. Angst, Habgier, Eifersucht konnten jemanden so weit treiben, dass er sich vergaß und sämtliche Grenzen überschritt. Was aber jenseits davon geschah, konnten selbst die Mörder nicht vorhersagen.
Pekkala musste an den Tag auf dem Bahnhof denken, als er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Doch jetzt war das Bild seltsamerweise umgedreht. Er befand sich nicht mehr im Zug, sondern auf dem Bahnsteig und sah sich selbst durch die Augen seines Vaters. Weit in der Ferne, fast nicht mehr zu erkennen, erblickte er noch den jungen Mann, der er einmal gewesen war und der sich aus dem Waggon lehnte und zum Abschied den Arm hob, während er nach Petrograd und zum Finnischen Garderegiment abreiste.
Dann war der Zug
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