Der Rote Sarg
es wird keine Minute zu früh sein. Das Deutsche Reich bereitet sich ganz offen auf einen Krieg vor. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um Zeit zu gewinnen. Gestern habe ich die Einstellung sämtlicher Patrouillen an der polnischen Grenze befohlen, damit wir nicht zufällig ihr Hoheitsgebiet verletzen. Hitler könnte das als aggressiven Akt interpretieren, der ihm einen Vorwand für den Beginn von Feindseligkeiten liefert. Damit lässt sich das Unvermeidliche nicht verhindern, nur aufschieben. Hoffentlich so lange, dass der T-34 bereitsteht, wenn unsere Feinde zum Angriff übergehen.«
Eilig verabschiedete sich Pekkala, während Stalin weiterhin auf die imaginäre Panzerparade starrte.
Kirow ging unten auf der Straße neben dem Emka auf und ab, als Pekkala aus dem Gebäude gerannt kam. »Rüber zur Lubjanka, so schnell wie möglich!«, rief er ihm nur zu.
Minuten später röhrte der Emka um die Ecke des Dscherschinski-Platzes und bog in den Hof des Lubjanka-Gefängnisses ein. Obwohl der letzte Schneefall Wochen zurücklag, türmten sich in den schattigen Ecken, in die die Sonne nicht hinkam, immer noch schmutzig schwarze Schneehaufen. An drei Seiten ragten die Gebäude mehrere Stockwerke hoch auf. Fenster erstreckten sich entlang des Erdgeschosses, in den oberen Stockwerken waren sie mit Metallblenden abgedeckt, so dass von außen nicht zu erkennen war, was dahinter vor sich ging.
Ein Wachposten begleitete sie ins Gefängnis. Er trug einen unförmigen Mantel aus billiger, ungleichmäßig gefärbter, purpurbrauner Wolle und eine unförmige, Uschanka genannte Fellmütze. Pekkala und Kirow kritzelten am Empfang ihre Namen in ein riesiges Buch mit mehreren tausend Seiten Umfang. Auf dem Papier lag eine Eisenplatte, die alles abdeckte und nur das Feld freiließ, in dem sie zu unterschreiben hatten.
Der Mann hinter dem Empfangstresen griff zum Telefon. »Pekkala ist hier«, sprach er in den Hörer.
Ein weiterer Wachposten übernahm und führte sie durch eine Reihe langer, fensterloser und fahl beleuchteter Gänge. Hunderte grauer Stahltüren säumten den Weg. Es stank nach Ammoniak, Schweiß und der modrigen Feuchtigkeit alter Steingebäude. Die Böden waren mit braunen Teppichböden belegt. Der Wachposten trug sogar Stiefel mit Filzsohlen, als wäre es ein Verbrechen, ein Geräusch zu verursachen. Bis auf ihre leisen Schritte war es absolut still. Sooft Pekkala auch schon hier gewesen war, die Stille zermürbte ihn jedes Mal aufs Neue.
Der Wachposten blieb vor einer der Zellen stehen, schlug gegen das Eisen und öffnete die Tür, ohne auf eine Antwort zu warten. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wies er sie an, einzutreten.
Pekkala und Kirow betraten einen etwa drei Schritte langen und vier Schritte breiten Raum mit hoher Decke. Die Wände waren bis zur Brusthöhe braun gestrichen, darüber war alles weiß. Beleuchtet wurde alles durch eine Glühbirne in einer vergitterten Nische über der Tür.
In der Mitte des Raums stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Bündel alter Fetzen lag.
Zwischen Pekkala und diesem Tisch, mit dem Rücken zu ihnen, stand Major Lysenkowa. Sie trug die NKWD-Ausgehuniform: olivbrauner Rock mit glänzenden Messingknöpfen, knielange schwarze Stiefel, in die die dunkelblauen Hosenbeine mit purpurroten Streifen gestopft waren.
»Ich sagte doch, ich will nicht gestört werden!«, schrie sie, während sie sich umdrehte. Erst jetzt erkannte sie, wer den Raum betreten hatte. »Pekkala!« Sie riss überrascht die Augen auf. »Sie habe ich nicht erwartet.«
»Offensichtlich.« Pekkala sah zu der Gestalt, die in einer Ecke kauerte. Der Mann trug die dünne beige Baumwollkleidung, die an alle Lubjanka-Gefangene ausgegeben wurde. Er hatte die Knie an die Brust gezogen und den Kopf auf die Knie gelegt. Einer der Arme hing schlaff nach unten. Wahrscheinlich war ihm die Schulter ausgekugelt worden. Den anderen Arm hatte er um die Schienbeine geschlungen, als wollte er sich so klein wie möglich machen. Als er Pekkalas Stimme hörte, hob er den Kopf.
Sein Gesicht war von den Schlägen so geschwollen, dass Pekkala ihn nicht identifizieren konnte.
»Inspektor«, krächzte er.
Jetzt erkannte Pekkala die Stimme. »Uschinskij!«, rief er beim Anblick des übel zugerichteten Wissenschaftlers.
Major Lysenkowa nahm ein Blatt Papier vom Tisch. »Hier ist das volle Geständnis des Mordes und seiner Absicht, Geheimnisse an den Feind zu verkaufen. Er hat es unterzeichnet. Der Fall ist
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