Der Rote Tod
denken Sie? Er hat einen Vertrag, und den muss er einhalten.«
»Verstehe.« Ich streckte meine Beine so weit aus wie möglich und spürte plötzlich unter meiner rechten Hacke nicht nur den glatten Belag des Bodens, sondern rutschte damit leicht über den Untergrund hinweg. Als hätte sich an meiner Hacke etwas verfangen.
Da Harry im Moment mit der Frau sprach, nutzte ich die Gelegenheit, um den Gegenstand näher zu mir heranzuziehen. Dann bückte ich mich schnell, streckte den Arm aus und hielt ihn plötzlich zwischen meinen Fingern. Ich hob den weichen Gegenstand in die Höhe, aber nicht so hoch, dass er über den Tisch hinwegschaute.
Dafür blickte ich ihn an.
Es war eine Serviette, die ich aufgehoben hatte. Von der Grundfarbe her weiß, aber sie hatte auch ein rotes Muster bekommen. Auf der Fläche verteilten sich kleinere Punkte, die ausgelaufen waren und aussahen wie Tinte auf einem Löschblatt.
Nur war diese Tinte nicht blau, sondern rot, und sofort schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
Blut!
Es war Blut. Das wusste ich. Dunkles Blut, und der Zufall hatte mich auf ein Beweismittel stoßen lassen. Okay, das Blut konnte viele Ursachen haben. Man brauchte sich nur mal kurz in den Finger zu schneiden und das Blut immer wieder abzutrocknen, dann ergab es dieses Muster. Nur konnte ich das in diesem Fall nicht so recht glauben. Dieser ganze Fall hatte mich schon sehr misstrauisch werden lassen.
Ohne dass Harry oder Frau Kohler etwas bemerkten, steckte ich die Serviette in die Hosentasche. Das passierte genau zum richtigen Zeitpunkt, denn ich hörte die Frau sagen: »Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht weiter helfen. Ich komme mir selbst vor wie in einem Gefängnis und weiß nicht, wie ich da hinauskommen soll.«
»Das verstehen wir«, sagte Harry. »Doch ich kann ihnen noch mal versprechen, dass Hanna nichts passieren wird. Sie befindet sich in sehr guter Obhut.«
Gertrud Kohler konnte durch die Worte nicht beruhigt werden. Sie starrte zwischen uns hindurch gegen die innere Wand und schien mit den Gedanken meilenweit entfernt zu sein.
»Ich habe trotzdem Angst um Hanna. Sie ist eine Zeugin, verstehen Sie? Sie hat einmal Glück gehabt, doch ich glaube nicht, dass es ihr noch ein zweites Mal so ergehen wird. Glück kann man eben nur einmal haben, finde ich.«
»Glauben Sie, dass der Rote Tod sich auf die Suche machen wird?«
»Ich halte jetzt alles für möglich, Herr Stahl, alles. Es sind ja schon zwei Morde geschehen. Es kam sehr schnell das Gerücht auf, dass der Rote Tod dahinter steckt, obwohl er ja gar nicht existent ist, sondern nur eine Legende. Aber die Leute haben davon gesprochen, und die Zeitungen nahmen es auf. Dabei weiß ich nicht mal, wer es aufgebracht hat. Ist mir auch egal, wenn ich ehrlich sein soll. Solange es keine andere Spur oder keinen Gegenbeweis gibt, glauben die Menschen hier an den Roten Tod. Ich tue es inzwischen auch, denn ich habe keinen Grund, meiner Tochter nicht zu glauben.«
»Der Killer kann sich verkleidet haben«, sagte Harry.
»Ja, ja, er nutzt eine alte Legende aus. Es gibt ja einige davon in dieser Stadt. Wenn Sie vor das alte Rathaus gehen, dann sehen sie den Brunnen mit der Gänseliesel. Das ist auch so etwas wie ein Wahrzeichen dieser Stadt.«
»Auch der Rote Tod?«, fragte ich.
»Nein, diese Geschichte hat man vergessen. Sie ist zu blutig. Und der Rote Tod war auch kein Rattenfänger wie der in Hameln. Da machte man schon Unterschiede.«
Ich wechselte das Thema. »Werden Sie Ihren Mann heute noch sehen?«
»Ich denke nicht.«
»Sie gehen auch nicht in die Vorstellung?«
Irgendwie hatte ich da einen wunden Punkt getroffen, denn es fiel auf, dass Gertrud Kohler zusammenzuckte. »Nein, ich möchte mit meiner Tochter zusammenbleiben und sie beschützen.«
Das konnten wir gut nachvollziehen und sagten es ihr auch. Zudem machten wir ihr klar, dass unser Besuch beendet war, und erhoben uns. Zugleich bedankte sich Harry für die Zusammenarbeit.
Gertrud Kohler nahm es mit einem Achselzucken hin. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, auch bei ihrer Tochter, aber ebenfalls bei einem anderen Thema. Ihr Blick war ins Leere gerichtet.
Ich war als Erster an der Tür und warf einen Blick nach draußen. Die Leute auf dem Platz hatten sich in ihre Wagen zurückgezogen oder hockten unter den Dächern der Vorzelte. Es sah alles so stinknormal aus.
Ein allmählich schwindender Tag, der bald anbrechende Abend, das alles
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