Der Rote Tod
und sie brach auf ihrem Platz zusammen. Der Kopf sank nach vorn. Er berührte die Tischplatte, ohne dass der Tränenstrom gestoppt wurde.
Ulrike Dorn war geschockt. Mit diesem Ausbruch hatte sie nie und nimmer gerechnet. »Frau Kohler, bitte, was ist mit Ihnen? Was ist los? Was haben Sie?«
Der Kopf lag auf ihren Armen. Trotzdem schüttelte die Frau ihn. Sie wollte nicht sprechen, und Ulrike Dom stand auf, um ein Glas Wasser zu holen. Dabei schaute sie sich gleichzeitig im hinteren Teil des Wohnmobils um, nachdem sie die Zwischentür geöffnet hatte. Auch dort fand sie keinen Hinweis auf Hanna.
Mit dem Wasser kehrte sie zum Tisch zurück. Gertrud Kohler weinte nicht mehr so heftig.
»Bitte, Frau Kohler, Sie dürfen nichts mehr zurückhalten. Es ist auch für Sie nicht gut. Sie müssen mir jetzt einfach die Wahrheit sagen.«
Langsam richtete sich die Angesprochene auf. Ihr Gesicht war verquollen. Von Ulrike Dom bekam sie ein sauberes Taschentuch und bedankte sich dafür.
Dann trank sie das Wasserglas fast leer. Und schließlich konnte sie auch sprechen. »Es ist alles so schrecklich«
»flüsterte sie. »Es ist nicht zu fassen, und ich will Ihnen sagen, dass ich eine schreckliche Angst um meine Tochter habe.«
»Dann wissen Sie also mehr?«
»Ja, das weiß ich. Das glaube ich zumindest.«
»Sie müssen es sagen.« Ulrike Dom setzte sich wieder hin. »Es ist für uns alle wichtig.«
»Das glaube ich auch.«
Die Polizistin wartete, bis sich Gertrud Kohler wieder gefangen hatte. Sie suchte noch nach den richtigen Anfangsworten und hatte sie schließlich gefunden.
»Es ist nicht so einfach, wie Sie glauben. Es geht um meinen Mann, und er ist auch nicht der, für den er sich ausgibt. Nicht immer zumindest. Er ist eine gespaltene Persönlichkeit.«
»Sind das Schauspieler nicht öfter?«
»Das hat mit dem Beruf bei ihm zumindest nichts zu tun. Bei ihm geht es tiefer, viel tiefer.«
»Und was ist er?«
Gertrud Kohler musste erst schlucken, weil ihr die Antwort so schwer fiel. »Mein Mann... mein Mann... ist der Rote Tod!« Jetzt war es heraus. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und Gertrud sagte auch nichts weiter. Sie schaute aus gequollenen Augen nach vorn in das Gesicht der Frau, das sie nur verschwommen sah, aber trotzdem erkannte sie, was sich dort an starken Gefühlen abzeichnete.
Unglaube, Verständnislosigkeit. Das Zucken der Lippen, als wollte sie anfangen zu lachen.
»Sie wissen, was Sie da gesagt haben, Frau Kohler?«
»Ja, das weiß ich. Und dabei bleibe ich auch.«
»Dann... dann«, sie konnte es noch immer nicht glauben. »Dann ist Ihr Mann tatsächlich der Rote Tod. Der Mörder dieser drei Menschen? Habe ich Sie richtig verstanden?«
»Das haben Sie.«
Ulrike Dorn war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte der Frau zuerst nicht glauben wollen, nun aber sah sie die Dinge mit anderen Augen an.
»Er verkleidet sich und streift in der Nacht durch die Stadt, um die böse Legende wieder auferstehen zu lassen. Kann man das so sehen, Frau Kohler?«
»Nein, nicht.«
Die Hauptkommissarin wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. »Nicht, sagen Sie? Was dann?«
»Er ist es, Frau Dorn!«
»Ähm... bitte?«
»Ja, ja, verstehen Sie doch«, brach es aus der Frau hervor. »Er ist es, verdammt noch mal. Er ist es ganz. Er ist der Rote Tod, und er besteht nicht nur aus einer Verkleidung. Der Rote Tod hat ihn übernommen oder umgekehrt. Das weiß ich nicht genau.« Sie schlug mit der rechten Faust mehrmals auf den Tisch. »Die Legende lebt, Frau Dom. Sie ist nicht tot.« Ihre Stimme steigerte sich noch mehr. »Es gibt ihn. Er ist in der Stadt und wird auch weiterhin morden, bis er sein verfluchtes Ziel endlich erreicht hat.«
»Sein Ziel, sagen Sie?«
»Ja, sein Ziel« Etwas anderes kann ich Ihnen auch nicht sagen. Es ist eine alte Rache. Die Menschen hier haben ihm etwas angetan. Damals – vor langen Jahren. Und genau das bekommen sie jetzt zurück. Auge um Auge – Zahn um Zahn.«
Ulrike Dorn wusste nicht, was sie erwidern sollte. Natürlich hatte auch sie sich mit der Legende vertraut gemacht. Sie wusste, dass damals ein gewisser Alexis Kroland mit Schimpf und Schande aus der Stadt verjagt worden war, ohne dass er seinen Lohn für seine heilenden Taten erhalten hatte.
Und der war jetzt wieder da. In Gestalt eines Schauspielers mit dem Namen Richard Kohler.
Der Beweis fehlte Ulrike Dorn. Aber sie kannte die Aussagen der Frau. Mit denen würde sie den Mann konfrontieren. Dann
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