Der Rote Tod
es die Möglichkeit des Theaters gibt, aber wie ich sie kenne, wird sie sich auch mit Gertrud Kohler in Verbindung setzen, weil sie glaubt, dass Hanna zu ihrer Mutter zurückgekehrt ist.«
»Was du nicht annimmst?«
»Genau.«
Ich schaute auf die Uhr und fragte dabei: »Wann fängt die Vorstellung an?«
Harry dachte kurz nach. »Wenn mich nicht alles täuscht, um zwanzig Uhr.«
Ich ließ meinen Blick auf dem Zifferblatt haften. »Und jetzt haben wir neunzehn Uhr durch.«
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Weiß ich. Aber wir wollen die Vorstellung auch nicht stören, sondern auf eine Gelegenheit warten. Und wir brauchen noch den endgültigen Beweis, dass wir richtig liegen.«
»Komm.« Harry stand auf und schob den Stuhl zurück. »Mal sehen, wie weit die Experten sind.«
Ich war froh, aus der Kantine herauskommen zu können. Gedanklich beschäftigte ich mich weniger mit der Analyse als mit der Person des Richard Kohler.
Wer war er wirklich? Was steckte hinter ihm? Nutzte er seinen Beruf als Schauspieler aus, um in der Nacht in eine zweite mörderische Gestalt zu schlüpfen? Irrte er dann durch die Gegend und suchte nach irgendwelchen Opfern?
Das alles konnte sein, auch wenn ich noch kein richtiges Motiv kannte und nicht wusste, ob der Rote Tod in der Nacht noch ein normaler Mensch war oder nicht. Altes Blut, wie kam es in seinen Körper? Hatte die Legende überlebt und das nicht nur in der Erzählung, sondern auch in der Realität?
Möglich war alles. Da hatte ich schon die schlimmsten Dinge erlebt. Unerklärliche, die trotzdem eine innere Logik besaßen, wenn man andere Maßstäbe ansetzte.
Harry und ich wurden bereits erwartet. Der Wissenschaftler hatte sich beeilt und meinte, als er uns sah: »Das können Sie gar nicht gutmachen, meine Herren.«
»Was trinken Sie denn?«, fragte Harry.
»Nur Milch.«
»Dann lassen wir Ihnen eine große Flasche zukommen.«
Er schaute Harry an, als wollte er ihn fressen, und kam dann zur Sache.
»Also, wir haben unser Bestes getan und wirklich abgekürzt. Da wir schon Vorlagen besaßen, konnten wir darauf aufbauen und...«
»Bitte, Doktor, geht es nicht kürzer?«
»Ja, ja, wie...«
»Ist das Blut mit dem identisch, dass sie schon untersucht haben, oder nicht?«
Er blickte uns erstaunt an. »Ja, Sie haben Recht, es gibt diese Übereinstimmung.«
Nach dieser Antwort lief mir ein Schauer über den Rücken, und Harry erging es sicherlich ähnlich. Es gab keinen Grund für uns, an den Aussagen des Experten zu zweifeln, dem unsere Reaktion nicht gefiel, weil wir zunächst nichts sagten.
»Sind Sie nicht zufrieden?«
»Doch, doch, das sind wir«, sagte ich schnell. »Wir sind sogar sehr zufrieden.«
Dann bin ich ja beruhigt. Er zuckte die Achseln. »Auch uns ist es ein Rätsel, wie jemand an ein so altes Blut gelangen kann. Es zeigt zwar hohe Ansätze von Zersetzung, aber...«
Ich winkte ab. »Bitte, Doktor, keinen Fachvortrag. Wir sind ihnen wirklich sehr dankbar, dass sie uns geholfen haben.«
»War ja meine Pflicht.«
»Gut, dann möchte ich Ihnen noch sagen, dass wir Ihnen keine Milch zukommen lassen werden, sondern einen Kasten Bier. Es gibt ja noch Kollegen, die nicht nur Milch trinken...«
»Ausnahmen gibt es bei mir auch.«
»Danke, das macht Sie menschlich.«
Für uns war das Gespräch damit beendet. Beinahe fluchtartig verließen wir das Institut.
»Jetzt bleibt das Theater«, sagte Harry, als er darauf wartete, dass ich den BMW aufschloss.
»Genau. Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich mir schon seit langem wieder ein Stück auf der Bühne anschauen. Vor allen Dingen, wenn es einen derartigen Inhalt hat.«
»Ach, willst du auch deine Seele verkaufen?«
»Ja, Harry, davon habe ich schon immer geträumt...«
***
Gertrud Kohler wusste nicht, was sie unternehmen sollte. Nie in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Druck verspürt. Sie spürte sich wahnsinnig allein, von allen verlassen. Die kleine Familie war zerbrochen, und sie wusste, dass sich dieser entstandene Riss nie mehr kitten lassen würde. Darauf hätte sie ein Vermögen gewettet.
Erst jetzt war ihr auch klar geworden, dass sie ihren Mann gar nicht richtig kannte. Sie ging davon aus, dass er ihr in den Jahren ihrer Ehe nur etwas vorgespielt hatte. Er war nicht nur der, als der er sich nach außen hin gab. In ihm steckte etwas anderes. Sehr tief in seinem Innern lauerte das Grauen. Eine Gefahr, die nicht so einfach erklärt werden konnte. Sie war mit menschlichen Maßstäben
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